Déjà-vu

Was sagen die Corona-Leugner-Proteste über die Gesellschaft der Gegenwart aus? Vielleicht weniger, als es oft heißt. Wütende Impfgegner gab es schon im frühen 19. Jahrhundert. Während die moderne Medizin die Pockenimpfung als Durchbruch feierte, organisierten sich die Skeptiker - und zwar weit besser als heute. 

Von Michaela Schwinn, Süddeutsche vom 7. Januar 2022

Plötzlich wachsen der Frau zwei Hörner, sie durchbohren ihre Stirn. Panisch reißt sie die Arme zum Himmel. Auch den anderen, die neben ihr stehen, ergeht es nicht viel besser: Kleine, braune Kühe springen aus ihren Ohren, sie kämpfen sich aus den menschlichen Körpern, durchstoßen dabei Oberarme, Nasen und Wangen. Es ist eine grausige Szene, die der britische Künstler James Gillray 1802 in einer seiner Karikaturen einfing: Eigentlich waren die Menschen gekommen, um sich gegen die gefährlichen Pocken zu schützen. Um sich, wie es in der Zeichnung heißt, "kuhwarmen" Impfstoff verabreichen zu lassen. Doch dann scheint der Wirkstoff in ihrem Körper sein Unwesen zu treiben, er macht den Menschen zum Rindvieh.

So schrill und überspitzt die Szene auf den ersten Blick auch wirken mag, so erzählt sie doch viel darüber, welche Gefühle die Impfung auslöst - ganz gleich, ob vor zweihundert Jahren oder heute. Da ist einerseits die Hoffnung, der Krankheit und dem Leiden zu entgehen. Aber gleichzeitig die Angst, der Impfstoff könnte dem gesunden Körper Schaden zufügen.

Damals, als die Zeichnung entstand, war es gerade einmal sechs Jahre her, dass der englische Landarzt Edward Jenner auf die Idee gekommen war, die Menschenpocken mithilfe der Kuhpocken zu bekämpfen. Schon vor ihm hatten Mediziner versucht, der Seuche Herr zu werden. Denn die Pocken - auch Blattern genannt - waren heimtückisch: Auf der Haut der Erkrankten sprossen eitrige, stinkende Pusteln, das Virus infizierte den Mund, den Rachen und sogar die Netzhaut der Augen. 400 000 Menschen sollen im 18. Jahrhundert in Europa jährlich daran gestorben sein. Wer überlebte, war häufig entstellt, blind, taub oder konnte nicht mehr laufen.

Auch Hausarzt Edward Jenner überlebte die Pocken als Kind nur knapp. Jahrzehnte später kamen immer noch Pockenkranke in seine Praxis in Berkeley. Also wagte er im Jahr 1796 ein Experiment, dessen Ausgang völlig ungewiss war: Für den Versuch herhalten musste der achtjährige James Phipps - der Sohn seines Gärtners. Völlig verängstigt soll der Junge gewesen sein, als Jenner ihn zuerst mit den harmlosen Kuhpocken infizierte und wenig später mit dem gefährlichen Pockenerreger. "Halt still, es ist nur ein kleiner Ritzer", soll der Arzt wenig verständnisvoll gesagt haben. Ein kleiner Ritzer, der als großer medizinischer Durchbruch in die Geschichte eingehen sollte: Denn James Phipps blieb gesund. Das Experiment war der erste große Schritt zur modernen Impftechnologie. Aus dem lateinischen "vacca" - die Kuh - entstand der Begriff des Vakzins.

Deutsche Impfgegnervereine zählten 1914 mehr als 300 000 Mitglieder

Während viele Jenner feierten, mehrten sich sehr schnell auch kritische Stimmen gegen die Impfung. Spätestens als der Reichstag 1874 zustimmte, die Pockenimpfung für Kinder zur Pflicht zu machen, formierte sich offener Widerstand. Diesen kann man sich ähnlich wie heute vorstellen, nur dass die Impfgegner damals besser organisiert waren: Überall im Deutschen Kaiserreich gründeten sich plötzlich Impfgegner-Vereine. Dort kamen die Skeptiker regelmäßig zusammen, sie veröffentlichten Flugblätter und sammelten Unterschriften gegen das Impfgesetz. Der Medizinhistoriker Malte Thießen hat sich intensiv mit der Geschichte des Impfens auseinandergesetzt. In seinem Buch "Immunisierte Gesellschaft" schätzt er, dass deutsche Impfgegnervereine im Jahr 1914 mehr als 300 000 Mitglieder zählten.

Die Kritiker organisierten sich auch überregional: Um sich auszutauschen und den Widerstand zu verstärken, kamen sie zu großen "Impfgegner-Kongressen" zusammen. So auch an einem Septembertag 1911. Hunderte Demonstranten zogen durch die Frankfurter Altstadt und verbreiteten ihre Parolen: Die Impfung sei Gift, sie verhindere die Selbstheilung des Körpers. Viel besser sei eine "natürliche" Immunisierung durch Bewegung und einen gesunden Lebensstil. Auch publizistisch traten die Impfverächter in Erscheinung: Am bekanntesten ist dabei die Zeitschrift Der Impfgegner. Der Herausgeber Heinrich Oidtmann verdächtigte darin den Staat, die Statistik der Pockentoten zu verfälschen, und berichtete von Ärzten, die angeblich versuchten, Todesfälle durch die Impfung zu vertuschen.

Aber wer waren die Menschen, die in solche Vereine eintraten, die grölend durch die Straßen zogen? Das ist eine Frage, die nicht leicht zu beantworten ist, denn damals wie heute gab und gibt es nicht den einen Grund, warum Menschen die Spritze ablehnen. Die Gruppe der Impfgegner im 19. und 20. Jahrhundert war so wenig homogen, wie ihre Nachfolger heute es sind, sondern ein Zusammenschluss aus vielen Individuen - mit dem gleichen Ziel, aber sehr unterschiedlichen Beweggründen.

Da gab es die Verschwörungserzähler, die ganz offen antisemitische Thesen verbreiteten: Manche behaupteten, jüdische Politiker hätten den Impfzwang durchgesetzt, damit sich jüdische Ärzte daran bereichern könnten. Andere waren überzeugt, dass die Juden mit der Impfung die Menschheit systematisch vergiften wollten. Mathias Berek, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, hat Beispiele von Judenhass und Impfkritik gesammelt: So hieß es 1911 in der antisemitischen Zeitschrift Hammer, dass jüdische Mütter ihre Kinder nicht impfen ließen und sich stattdessen von Ärzten falsche Bescheinigungen besorgten. Dadurch sollte das Judentum verschont bleiben von der Infektion mit dem "Kälber-Eiter". Dass Judenhass unter Impfskeptikern keine Seltenheit war, zeigt auch das Beispiel von Paul Förster - einem bekannten Rassenantisemiten und gleichzeitig Vorsitzenden des Deutschen Bundes der Impfgegner.

"Die modernen Arzneien heißen: Luft, Sonne, Wasser und giftfreie Diät", erklärte Heinrich Molenaar, der Impfstoffe als Gift ansah

Vehemente Ablehnung kam auch damals schon von einer anderen Gruppe: den Anhängern der Lebensreformbewegung und der Naturheilkunde. Für sie bedeutete die Moderne, die Industrialisierung und Verstädterung nicht Fortschritt, sondern Verfall. Die Gesellschaft - erkrankt durch Schmutz und Lärm - sollte an und mit der Natur geheilt werden. Mit Freikörperkult, Vegetarismus, Gartenstädten und alternativer Medizin. Die neu aufkeimende akademische Medizin mit ihrer "Medikamentensucht" war ihnen suspekt. Vielmehr vertrauten sie auf andere Heilmittel. "Die modernen Arzneien heißen: Luft, Sonne, Wasser und giftfreie Diät", so formulierte es 1912 Heinrich Molenaar, Gymnasialprofessor und einer der engagiertesten Impfgegner der Zeit. Da ist es wenig überraschend, dass die Lebensreformer die Impfung als unnatürlich, ja sogar als Gift ansahen. Ihre Ideen verbreiteten sich vor allem in Deutschland und der Schweiz. Zentren der Bewegung waren wie heute Sachsen, besonders die Gegend um Dresden, und Stuttgart.

Auch Religion spielte eine Rolle: Zwar warben viele christliche Pastoren und Pfarrer in den Gottesdiensten für die Impfung, einige zogen sogar mit den Gemeindeärzten von Haus zu Haus. Andere Geistliche und Gläubige wiederum sahen Krankheiten als Ausdruck von Gottes Willen, als eine Prüfung, der sich der Mensch stellen musste. Für sie war die Impfung ein verbotener Eingriff in die Schöpfung. So wie damals manche Geistliche auch Blitze als Vorsehung Gottes erachteten - und deshalb Blitzableiter an Gebäuden ablehnten. Wieder anderen ging es gar nicht um die Impfung an sich. Sie störten sich an der Allmacht des Staates und dem Verlust der eigenen Freiheit.

Und schließlich gab es da noch die besorgten Eltern, die schlichtweg Angst hatten um ihre Söhne und Töchter. Sogar das Handbuch "Die Frau als Hausärztin" - ein beliebtes Nachschlagewerk für alle Alltagsfragen des weiblichen Lebens - empfahl die Flucht vor dem Reichsimpfgesetz: "Wer es vermag, verlasse Deutschland, bis die Kinder erwachsen sind." Die autoritäre Art, wie das Gesetz - zwar selten, aber doch mancherorts - durchgesetzt wurde, trug kaum zur Akzeptanz der Maßnahmen bei: "Im Kaiserreich und auch noch in der Weimarer Republik wurden Kinder mit Polizeigewalt zum Arzt geschleppt, um die Impfung durchzuführen", sagt der Medizinhistoriker Malte Thießen.

Die Sorgen der Eltern waren nicht unbegründet. Die Pockenimpfung schützte sehr effektiv gegen den Erreger und half auf lange Sicht, die Krankheit auszurotten, aber immer wieder kam es zu schweren Impfschäden. Das lag auch an der Art und Weise, wie der Impfstoff damals erzeugt und verabreicht wurde: Die Impfanstalten im Deutschen Reich hatten nichts mit heutigen Pharmaunternehmen oder Impfzentren gemeinsam. Vielmehr muss man sie sich als eine Art Bauernhof mit angeschlossener Arztpraxis vorstellen, erklärt Thießen. In den Ställen standen mit Pocken infizierte Kühe. Die Ärzte stachen in die Pockenbläschen der Tiere und ritzten den Kindern den Erreger dann unter die Haut. Die Qualität des Impfstoffs war nur schwer zu kontrollieren, verunreinigte Seren oder Instrumente waren keine Seltenheit. Noch in den 1960er-Jahren habe es laut Bundesgesundheitsministerium bei einem von 20 000 geimpften Kindern einen schweren Impfschaden gegeben. "Und das bedeutete tatsächlich Tod oder eine schwere Behinderung", sagt Thießen. Zur Kaiserzeit sei diese Rate noch weitaus höher gewesen. Aus Angst um ihre Kinder besorgten sich manche Eltern deshalb Atteste, die sie von der Impfung freistellten, oder falsche Impfscheine. Schon kurz nach der Einführung der Impfpflicht florierte der Markt mit den Fälschungen.

Für Impfgegner wie Hugo Wegener waren Zwischenfälle nach der Impfung ein gefundenes Fressen: Der Frankfurter Ingenieur brachte 1912 das Buch "Der Impf-Friedhof" heraus - ein Werk, das in sensationslüsterner Art 36 000 Fälle von Impfschäden auflistet -, in allen Details, illustriert mit Fotos von kranken Kindern. Darunter auch der einjährige Louis: Mit großen Augen schaut er in die Kamera, das Gesicht voller roter Flecken. Nach der Impfung sei sein Arm angeschwollen, heißt es, und "ein großer Ausschlag kam zum Vorschein, der auf die Mutter und alle drei Geschwister übertragen wurde". Louis überlebte, aber das Buch zeigt auch tote Kinder, übersät mit roten Pusteln, mit verklebten Augen, blass und dürr.

Bücher wie dieses, die Flugblätter und Leseheftchen, die Vereine und Konferenzen: All das trug dazu bei, dass sich das Weltbild der Impfgegner immer weiter verfestigte. Historiker Thießen vergleicht diese Strukturen daher mit den Echokammern der sozialen Medien: "Was Impfgegner heute auf Facebook oder Telegram betreiben, hatte ihre analogen Vorgänger." Obwohl die Impfgegner auch damals viel Unwahres verbreiteten, fand ihre Kritik auch außerhalb ihrer Kreise durchaus Gehör: So war "Der Impf-Friedhof" sogar mehrmals Thema im Berliner Reichstag. Die schrecklichen Bilder und Geschichten erhöhten den Druck auf den Staat, die Impfung zu verbessern und die Nebenwirkungen transparent zu machen. "Das alles war auch ein Ergebnis der Impfkritik", sagt Thießen.

Obwohl viele Eltern Vorbehalte hatten, blieb eine offene Verweigerung eher selten: Die Impfquote stieg und die Infektionen nahmen kontinuierlich ab. Der Impfstoff wirkte - das war kaum noch zu leugnen.

Die Impfgegner-Vereine blieben dennoch bestehen, und sie witterten ihre große Chance, als 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. Die wissenschaftliche Medizin galt unter den Nationalsozialisten als "verjudete Schulmedizin". Naturheilkunde hingegen wurde gefördert: Vollkornbrot und Turnen sollten den "deutschen Volkskörper" gesund halten. Im Konzentrationslager Dachau gab es einen riesigen Heilkräutergarten - Hunderte Häftlinge mussten ihn jeden Morgen pflegen. Die Arbeiter des sogenannten Kommandos "Plantage" zerrieben Kuhhorn und mischten nach dem Mondkalender Nahrung für die Kräuter. Manche der Pflanzen gingen direkt an die Front - zur Stärkung der Soldaten. Andere wurden für Menschenversuche eingesetzt.

Der SS-Reichsführer Heinrich Himmler lehnte Impfungen strikt ab

Ein häufiger Gast im Garten war der SS-Reichsführer Heinrich Himmler - ein Liebhaber von vegetarischem Essen. Impfungen lehnte er strikt ab. So auch Julius Streicher, NSDAP-Gauleiter von Franken und Herausgeber des Hetzblattes Der Stürmer. Noch immer verbreiten antisemitische Webseiten eine Stürmer-Karikatur aus den Dreißigerjahren: Ein jüdischer Arzt, gezeichnet mit den gängigen antisemitischen Stereotypen, impft ein Kind im Arm einer besorgten Mutter. Darunter steht: "Es ist mir sonderbar zumut, denn Gift und Jud' tut selten gut."

Die Hoffnungen der Impfgegner waren also nicht unbegründet, sie wurden aber schnell enttäuscht. Schon im Dezember 1933 verbot das Innenministerium sämtliche Impfgegner-Vereinigungen, die Impfpflicht wurde allerdings gelockert, künftige Impfungen wie gegen Diphtherie waren freiwillig. Seitdem, so sagt der Medizinhistoriker Thießen, gab es keine derartige Massenbewegung der Impfkritiker mehr - bis 2020 das Coronavirus die Welt befiel. Heute wiederholt sich vieles von damals: die Proteste, die Verschwörungsmythen, die Rufe nach Freiheit. Auch Thießen sagt: "Es fühlt sich tatsächlich an wie ein Déjà-vu."