Gefährlicher Irrtum

Eine der hartnäckigsten Annahmen zu Covid-19: Das Virus sei nicht schlimmer als eine Grippe - und die Maßnahmen deshalb überzogen. Warum das nicht stimmt. Ein Überblick. Süddeutsche 25. November 2020, 11:54 Uhr Corona-Pandemie

Längst ist dieser Einwurf zum Standard-Repertoire der Covid-Zweifler geworden. Bis heute taucht er zuverlässig in den Diskussionen auf: die Grippe! Die dies sagen, meinen in der Regel, dass Covid-19 auch nichts anderes sei als die Influenza, mit der wir doch recht kommod leben. Wozu also der ganze Aufstand angesichts des Coronavirus?

Der Vergleich ist in vielerlei Hinsicht falsch. Mittlerweile lassen sich einige dieser Fehlannahmen auch mit Zahlen belegen. Sars-CoV-2 hat deutlich gezeigt, dass es gefährlicher ist als die saisonale Grippe, wenn man die beiden wichtigsten Indikatoren heranzieht: das Potenzial andere anzustecken und zu töten. Das Coronavirus überträgt jeder Infizierte im Schnitt auf zwei bis drei andere. Bei der jährlichen Influenza liegt der Wert für gewöhnlich deutlich unter zwei. Covid-19 tötet etwa ein Prozent seiner Opfer; die Sterberate ist ungefähr 20 Mal so hoch wie die der Grippe.

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Das lässt sich längst an den Statistiken sehen. Weltweit sterben pro Jahr ungefähr 650 000 Menschen an der Influenza. Dem Coronavirus sind schon heute mehr als doppelt so viele Menschen erlegen - ein Ende ist noch nicht abzusehen. Besonders deutlich offenbart Sars-CoV-2 sein schauriges Potenzial in den USA: Die Grippe kostet dort etwa 30 000 bis 40 000 Leben pro Jahr. An Covid sind in den Staaten bis heute mehr als eine Viertel Million Menschen gestorben. Und auch in Deutschland übertrifft die Zahl der Covid-Toten - aktuell mehr als 14 000 - längst die der Influenza-Opfer aus Jahren mit milder Grippewelle.

Die Pandemiepläne waren auf ein neues Influenza-Virus ausgerichtet

Der entscheidende Unterschied aber ist: Sars-CoV-2 ist neu. Noch immer haben die meisten Menschen keine Immunität. Spezifische Mittel gegen das Virus fehlen, weshalb eben nur die groben und Jahrhunderte alten Waffen aus dem Arsenal geholt werden konnten: Quarantäne, Isolation, Gesichtsbedeckungen, Hygiene.

Tatsache ist: Wäre Ende vergangenen Jahres ein neues Grippevirus aufgetaucht, hätte die Welt höchstwahrscheinlich genauso reagiert. In der Tat waren die Pandemiepläne, die Experten Anfang 2020 eilig aus ihren Schubläden holten, auf ein neues Influenza-Virus ausgerichtet. Es galt nun mal als besonders wahrscheinlich, dass eine Pandemie am ehesten von einem neuen Grippeerreger ausgehen würde. Alles was die Grippe-Rufer so aufbringt - Schließung von Schulen und Kindergärten, Arbeit im Home-Office, Veranstaltungsverbot, Gesichtsmasken - stammt aus den Plänen für eine weltumspannende Grippe-Epidemie, die schon lange vor Auftauchen des Coronavirus aufgelegt wurden.

Für die gewöhnliche, saisonale Grippe dagegen sind die Corona-Maßnahmen nicht nötig, weil viele Menschen eine gewisse Immunität haben und es längst bessere Verteidigungsmöglichkeiten gibt. Dazu gehört in erster Linie die Impfung, für die durchaus ein beträchtlicher Aufwand betrieben wird. Da Grippeviren sich schnell verändern, wird der Impfstoff Jahr für Jahr neu angepasst. Die Vakzine, die jetzt in die Oberarme der Deutschen gespritzt wurden, hat man auf der Basis jener Erregerstämme entwickelt, die während der gerade zu Ende gegangenen Grippe-Saison auf der Südhalbkugel beobachtet wurden. Dort wiederum verfolgt man schon jetzt genau, welche Stämme auf der nördlichen Hemisphäre zu zirkulieren beginnen, um die Impfstoffe für die kommende Saison anzupassen. Seit mehr als 20 Jahren gibt es diese Impfstoffentwicklung in Dauerschleife. Ihr Rückgrat ist ein ausgefeiltes Monitoring; Labore aus mehr als 120 Ländern arbeiten dafür zusammen. Den Grundstein für dieses Netzwerk hat die Weltgemeinschaft schon im WHO-Gründungsjahr 1948 gelegt.

Das Ergebnis ist zugegeben weit vom Idealzustand entfernt. Das Rennen zwischen dem veränderlichen Virus und den Gesundheitsexperten, die die jüngsten Mutationen aufspüren wollen, gewinnt nicht selten die Mikrobe. Dann steht den Menschen eine Grippesaison bevor, in der die Hunderte Millionen Impfstoffdosen, die jährlich frisch aus den Fabriken entlassen werden, nur schlecht passen. Im Schnitt schützt das Vakzin daher nur etwa 50 bis 60 Prozent der Geimpften. Es bräuchte dringend mehr Forschung an einem Universalimpfstoff, der das Virus an zentralen Stellen angreift, die nicht permanenten Änderungen unterworfen sind. Auch neue Medikamente wären hilfreich, die aktuell verfügbaren wirken allenfalls mäßig.

Die Influenza wird meist unterschätzt

Doch Tatsache ist auch: Stünden gegen das Coronavirus auch nur diese mäßig effektiven Maßnahmen zur Verfügung, die heute gegen die jährliche Influenza im Einsatz sind, und hätte man über die Auswirkungen von Covid so profundes Wissen wie über die Grippe, dann wären die Einschränkungen nicht mehr oder höchstens in einigen Bereichen nötig.

Und so ist es eben nicht zutreffend, dass man der Influenza einfach ihren Lauf lässt, während man bei Covid kein Maß mehr findet. Es ist nicht so, dass die Welt das Coronavirus heillos überschätzt, sondern dass die Grippe-Rufer die Kontrolle der Influenza unterschätzen.

Wenn sich also etwas aus dem Grippe-Vergleich lernen lässt, dann das: Wie wenig etablierte Kontrollmechanismen gesehen und geschätzt werden. Welch geringen Stellenwert die Prävention hat. Das könnte auf lange Sicht vielleicht doch eine positive Nebenwirkung dieser grässlichen Pandemie sein. Covid zeigt der Welt, wie viel Mühe es kostet, Infektionskrankheiten auch nur halbwegs in Schach zu halten. Und welch Segen es ist, ein modernes Mittel in der Hand zu haben. Sei es eine Impfung, ein potentes Medikament oder einfache und präzise Tests.

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