Längst ist dieser Einwurf zum Standard-Repertoire der
Covid-Zweifler geworden. Bis heute taucht er zuverlässig in den
Diskussionen auf: die Grippe! Die dies sagen, meinen in der Regel, dass
Covid-19 auch nichts anderes sei als die Influenza, mit der wir doch
recht kommod leben. Wozu also der ganze Aufstand angesichts des Coronavirus?
Der
Vergleich ist in vielerlei Hinsicht falsch. Mittlerweile lassen sich
einige dieser Fehlannahmen auch mit Zahlen belegen. Sars-CoV-2 hat
deutlich gezeigt, dass es gefährlicher ist als die saisonale Grippe,
wenn man die beiden wichtigsten Indikatoren heranzieht: das Potenzial
andere anzustecken und zu töten. Das Coronavirus überträgt jeder
Infizierte im Schnitt auf zwei bis drei andere. Bei der jährlichen
Influenza liegt der Wert für gewöhnlich deutlich unter zwei. Covid-19
tötet etwa ein Prozent seiner Opfer; die Sterberate ist ungefähr 20 Mal
so hoch wie die der Grippe.
Das lässt sich längst an den Statistiken sehen.
Weltweit sterben pro Jahr ungefähr 650 000 Menschen an der Influenza.
Dem Coronavirus sind schon heute mehr als doppelt so viele Menschen
erlegen - ein Ende ist noch nicht abzusehen. Besonders deutlich
offenbart Sars-CoV-2 sein schauriges Potenzial in den USA: Die Grippe
kostet dort etwa 30 000 bis 40 000 Leben pro Jahr. An Covid sind in den
Staaten bis heute mehr als eine Viertel Million Menschen gestorben. Und
auch in Deutschland übertrifft die Zahl der Covid-Toten - aktuell mehr
als 14 000 - längst die der Influenza-Opfer aus Jahren mit
milder Grippewelle.
Die Pandemiepläne waren auf ein neues Influenza-Virus ausgerichtet
Der
entscheidende Unterschied aber ist: Sars-CoV-2 ist neu. Noch immer
haben die meisten Menschen keine Immunität. Spezifische Mittel gegen das
Virus fehlen, weshalb eben nur die groben und Jahrhunderte alten Waffen
aus dem Arsenal geholt werden konnten: Quarantäne, Isolation,
Gesichtsbedeckungen, Hygiene.
Tatsache ist: Wäre
Ende vergangenen Jahres ein neues Grippevirus aufgetaucht, hätte die
Welt höchstwahrscheinlich genauso reagiert. In der Tat waren die
Pandemiepläne, die Experten Anfang 2020 eilig aus ihren Schubläden
holten, auf ein neues Influenza-Virus ausgerichtet. Es galt nun mal als
besonders wahrscheinlich, dass eine Pandemie am ehesten von einem neuen
Grippeerreger ausgehen würde. Alles was die Grippe-Rufer so aufbringt -
Schließung von Schulen und Kindergärten, Arbeit im Home-Office,
Veranstaltungsverbot, Gesichtsmasken - stammt aus den Plänen für eine
weltumspannende Grippe-Epidemie, die schon lange vor Auftauchen des
Coronavirus aufgelegt wurden.
Für die gewöhnliche, saisonale Grippe dagegen sind die
Corona-Maßnahmen nicht nötig, weil viele Menschen eine gewisse
Immunität haben und es längst bessere Verteidigungsmöglichkeiten gibt.
Dazu gehört in erster Linie die Impfung, für die durchaus ein
beträchtlicher Aufwand betrieben wird. Da Grippeviren sich schnell
verändern, wird der Impfstoff Jahr für Jahr neu angepasst. Die Vakzine,
die jetzt in die Oberarme der Deutschen gespritzt wurden, hat man auf
der Basis jener Erregerstämme entwickelt, die während der gerade zu Ende
gegangenen Grippe-Saison auf der Südhalbkugel beobachtet wurden. Dort
wiederum verfolgt man schon jetzt genau, welche Stämme auf der
nördlichen Hemisphäre zu zirkulieren beginnen, um die Impfstoffe für die
kommende Saison anzupassen. Seit mehr als 20 Jahren gibt es diese
Impfstoffentwicklung in Dauerschleife. Ihr Rückgrat ist ein ausgefeiltes
Monitoring; Labore aus mehr als 120 Ländern arbeiten dafür zusammen.
Den Grundstein für dieses Netzwerk hat die Weltgemeinschaft schon im
WHO-Gründungsjahr 1948 gelegt.
Das Ergebnis ist
zugegeben weit vom Idealzustand entfernt. Das Rennen zwischen dem
veränderlichen Virus und den Gesundheitsexperten, die die jüngsten
Mutationen aufspüren wollen, gewinnt nicht selten die Mikrobe. Dann
steht den Menschen eine Grippesaison bevor, in der die Hunderte
Millionen Impfstoffdosen, die jährlich frisch aus den Fabriken entlassen
werden, nur schlecht passen. Im Schnitt schützt das Vakzin daher nur
etwa 50 bis 60 Prozent der Geimpften. Es bräuchte dringend mehr
Forschung an einem Universalimpfstoff, der das Virus an zentralen
Stellen angreift, die nicht permanenten Änderungen unterworfen sind.
Auch neue Medikamente wären hilfreich, die aktuell verfügbaren wirken
allenfalls mäßig.
Die Influenza wird meist unterschätzt
Doch
Tatsache ist auch: Stünden gegen das Coronavirus auch nur diese mäßig
effektiven Maßnahmen zur Verfügung, die heute gegen die jährliche
Influenza im Einsatz sind, und hätte man über die Auswirkungen von Covid
so profundes Wissen wie über die Grippe, dann wären die Einschränkungen
nicht mehr oder höchstens in einigen Bereichen nötig.
Und
so ist es eben nicht zutreffend, dass man der Influenza einfach ihren
Lauf lässt, während man bei Covid kein Maß mehr findet. Es ist nicht so,
dass die Welt das Coronavirus heillos überschätzt, sondern dass die
Grippe-Rufer die Kontrolle der Influenza unterschätzen.
Wenn
sich also etwas aus dem Grippe-Vergleich lernen lässt, dann das: Wie
wenig etablierte Kontrollmechanismen gesehen und geschätzt werden. Welch
geringen Stellenwert die Prävention hat. Das könnte auf lange Sicht
vielleicht doch eine positive Nebenwirkung dieser grässlichen Pandemie
sein. Covid zeigt der Welt, wie viel Mühe es kostet,
Infektionskrankheiten auch nur halbwegs in Schach zu halten. Und welch
Segen es ist, ein modernes Mittel in der Hand zu haben. Sei es eine
Impfung, ein potentes Medikament oder einfache und präzise Tests.