Lernt doch was Vernünftiges

Wenn du mir Azubis besorgst, kriegste dein Dach

Den Handwerksbetrieben fehlt seit Jahren der Nachwuchs. Das wurde mit Corona nicht besser. Keiner möchte mehr Metzger werden, oder Schreiner. Serkan Engin will das Handwerk retten – und die jungen Leute gleich mit.

Von Elisa Schwarz, Süddeutsche ON vom 5. November 2021 - 14 Min. Lesezeit; LINK SZ


Serkan Engin ist leider keine Wurst, damit geht’s schon los. Wäre er eine Wurst oder zumindest mit Würsten behängt, dann wäre jetzt bestimmt was los an seinem Stand, so wie drüben beim Metzger. Der Metzger hat sich als eine Art Wurst-Barbar verkleidet, er trägt ein Fell und einen Schottenrock, an dem Würste hängen, und wenn jemand reinkommt, ein Messebesucher, ein potenzieller Azubi, ruft er laut: „Ja servus! Trauts euch bloß her!“ Die meisten Besucher gucken dann ein bisschen erschrocken. Aber egal. Sie gucken.

Serkan Engin hat leider keine Wurst mitgebracht. Er steht da am Stand der Handwerkskammer mit einer Krawatte und einem dicken Buch mit Ausbildungsberufen, das er ganz hinten auf dem Tisch versteckt hat. Manchmal, wenn er an Schulen was übers Handwerk erzählen soll, nimmt er das Buch mit, und wenn die Stimmung gut ist, holt er es raus: „Das ist ein Buch“, sagt er dann, „das ist eine tolle Erfindung. Da stehen 130 Berufe drin, und wenn jemand auf das Handwerk pfurzt, pfurzt der auch auf 130 Berufe.“

Der Witz kommt meistens ganz gut an, manche hören danach sogar zu. Aber heute steht Serkan Engin nicht vor einer Klasse, heute steht er auf der Ausbildungsmesse in München, und es ist niemand da, dem er seinen Buch-Gag erzählen könnte. Einmal schlappt ein Junge mit Käppi vorbei und fragt, ob man Informatiker werden kann bei der Handwerkskammer. Da schüttelt Serkan Engin sanft den Kopf, ein Lächeln wie eine Hängematte. „Ah, okay“, sagt der Junge. Und geht wieder.

In Deutschland sind noch 63 176 Ausbildungsstellen unbesetzt, Stand Ende Oktober, das sind so viele wie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr. Die Gewerkschaft sprach von einer Generation Corona, von verlorenen Azubis, verlorenen Fachkräften, und während sie an den Universitäten darüber redeten, wie schwer es die Studenten haben mit ihren Partys, sagte Zimmermeister Martin Kollmeier aus Bayern, er hätte Sorge, dass irgendwann sein Handwerk ausstirbt.

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Dass so viele Stellen noch offen sind, daran ist natürlich erst mal Corona schuld. Praktika fielen weg, die Berufsmessen fanden digital statt, und viele Ausbilder wussten gar nicht, wie sie das machen sollen: Vor dem Bildschirm sitzen, wo sie sonst nie sitzen, um dann davon zu erzählen, wie toll es ist, in einer Werkstatt zu stehen. Serkan Engin, Berufsberater bei der Handwerkskammer München, zuständig für 78 000 Betriebe in Bayern, hat mal nachgefragt, wie die Online-Suche nach Azubis in den vergangenen Monaten lief. Rückmeldung: gar nicht.

Also fuhr er durchs Land, eineinhalb Jahre lang, von Schule zu Schule, wenn sie mal offen waren. Er stand vor Klassen, er zeigte Meisterbriefe, er sagte, Leute, das Handwerk ist krisenfest, bewerbt euch, im Herbst ist die erste Ausbildungsmesse in Präsenz. Kommt.

Jetzt ist Herbst, später September. Die erste Münchner Ausbildungsmesse in Präsenz seit eineinhalb Jahren. Und niemand ist da.

Sie hatten hier schon andere Zeiten bei der Messe im Hasenbergl, die im zweiten Stock des Kulturzentrums stattfindet, ein langer grauer Flur, links und rechts Zimmer. Sie hatten Zeiten, da warteten schon morgens die Schüler vor der Tür, die Jungs, die alle gleich zu den Kfz-Mechatronikern liefen, die Mädchen, die an Serkan Engins Stand vorbeischlichen: Haben Sie Frisör? Die Mütter, die von Stand zu Stand schwirrten wie Bienen und Flyer für ihr Kind einsammelten, was er immer peinlich fand. Gehen Sie dann auch arbeiten für Ihr Kind, fragte Engin dann schon mal.

Hunderte Schüler an einem Tag, sie standen runter bis zur U-Bahn. Und weil sie bei der Messe gehofft haben, dass dieses Jahr wieder so viele kommen, mehr noch, weil doch so viele Ausbildungsstellen unbesetzt sind, hat jemand Abstandssticker auf den Boden geklebt.

Sie führen die Treppe runter, über den Hof, den Gehweg entlang, bis runter zur U-Bahn. 10.30 Uhr, und keiner steht an. „Is’ schon wegen Corona“, sagt Serkan Engin, 40, der die Dinge gerne auf den Punkt bringt, „wegen den ganzen Delta-, Omega-, Zett-Virus-Varianten.“

Er schnauft einmal in seinen Anzug rein, und weil immer noch nichts los ist an seinem Stand, schlendert er den Flur entlang. Gucken, was die Konkurrenz so macht. Wegen Corona mussten sie alle Fenster aufreißen, keiner darf offene Gummibärchen rumliegen lassen, hundert Schüler dürften eh nicht kommen, sondern nur 80 pro Stunde, und nur mit Anmeldung.

Da ging’s ja schon los, sagt Serkan Engin, „da hieß es von den Schülern: Ich hab keine Mail-Adresse. Alle haben Instagram und Tiktok und den ganzen Quatsch. Aber keine Mail-Adresse?“ Dann schlendert er rüber zum Metzger im Schottenrock und schleimt ein bisschen los: „A Traum sind Sie, Herr Gaßner!“, woraufhin der zurückschleimt: „Ah, der Serkan, wir beide sind wie Dick und Doof, die letzten Mohikaner der Ausbildung.“

Corona ist nicht an allem schuld, es lief die ganzen Jahre davor ja schon nicht gut mit den Bewerbungen. Rund 60 Prozent eines Altersjahrgangs wollen studieren, das sind Zahlen von vor Corona, Experten gehen davon aus, dass es in den Pandemie-Jahren eher noch mehr werden. Corona ist nicht schuld. Aber Corona hat die Lage halt auch nicht verbessert.

Darum sind sie hier. Der Metzger sucht für 40, 50 Mitgliedsbetriebe der Metzger-Innung München, er sagt: „Uns fehlen die Leut, weil alle glauben, dass sie berühmt werden mit diesem Influencer-Dingsbums. Die lümmeln vorm Fernseher rum, da gibt’s Tag und Nacht Berlin, und des war’s dann.“

Und dann erzählt der Metzger davon, wie man ein Schwein zerlegt, von der siebten Rippe abwärts, das ist der Teil, in den Rocky Balboa reingeboxt hat. Und er erzählt von dem Weißwurstprüfungsessen, bei dem sie jede Wurst in winzigen Scheibchen probieren, der Geschmack, die Konsistenz, das Aussehen, es gibt die bronzene Wurst, die silberne Wurst, die goldene Wurst. Der Metzger schaut jetzt in die Luft, als könnte er sie riechen, die Würste. Aber die jungen Leute wollen keine Würste, weil sie Vegetarier sind oder sonst was, sie wollen kein Schwein zerlegen. Und Rocky Balboa kennt auch keiner mehr.

Vielleicht ist das auch etwas, das verloren geht, wenn es weniger Betriebe gibt. Die Liebe für die eigene Arbeit. Ein Autohändler schrieb mal eine Anzeige aus Sicht eines Autos: „Azubi Auto sucht Fahrer/in für den wahrscheinlich besten Job der Welt.“ Die Deutsche Bäckerinnung hat ein Video an der Eisbachwelle in München gedreht: „Auf dem Brot surfen? Krass!“ Dann sieht man zwei junge Männer, die ein langes Brot backen und einen Surfer bequatschen, darauf rumzusurfen. Es folgen ein paar sehr schnelle Schnitte, der Surfer surft auf dem Brot, Schnitt, Wasser spritzt, Schnitt, glückliche Frauen winken. Am Ende beißen alle rein, in das Surfbread.

Das war 2015, lange her, heute ist die Werbung geschliffener, heute gibt es Agenturen, in denen wahrscheinlich alle was mit Medien studiert haben und die Anzeigen schreiben für Handwerksbetriebe. Da steht dann drin, dass Zimmererlehrling Samuel Oppold schon als Kind davon träumte, Häuser zu bauen, dass er jetzt sogar nachhaltig bauen will, und alle so gerührt sind von Samuel Oppold, dass er einen Preis gewonnen hat, der natürlich nicht Preis heißt, sondern Azubi-Stipendium. So sieht PR aus, wenn sich Akademiker Handwerker vorstellen.

Auf der Messe ist jetzt doch ein bisschen was los, ein paar Jugendliche schlendern rum, manche haben Bewerbungsmappen dabei, andere Taschen, sie sammeln Kulis ein. Der Typ vom Fielmann-Stand sagt, dass er gleich einen verhaftet, wenn einer zu ihm kommt. Vielleicht ein Brillenträger, das ist immer einfach, dann kann man sagen: Ah, du trägst eine Brille, kennst du schon Fielmann? Am Fenster hockt der Mann vom Hotel-Stand mit der Quietsche-Ente und daddelt am Handy rum, und rechts stellt der Dachdecker aus, der auch keine Wurst mitgebracht hat, dafür aber seinen Azubi.

Das Verrückte ist ja, dass viele Handwerksbetriebe weiterliefen während der Pandemie. Nicht alle, klar, den meisten ging es schlecht, der Umsatz brach ein, aber es gibt Branchen, bei denen waren die Auftragsbücher so voll wie nie. Zahntechniker, Rolladenmechaniker. Der Dachdecker mit seinem Azubi sagt, bei ihnen lief es richtig gut, baute ja jeder wie verrückt, als der Lockdown im Sommer aufgehoben wurde. Aber dann stiegen die Preise für Holz, außerdem fehlten die Azubis, in guten Zeiten hatten sie 15, jetzt gerade mal vier. Und dann das Gemaule der Leute: Neulich rief ein Kunde an und beschwerte sich, weil niemand kam, um das Dach zu decken. Er sei Kunde, er sei König, er wollte den Chef sprechen. Da sagte der Chef, Junge, wenn du mir Azubis besorgst, kriegste dein Dach. Wenn nicht: einfach mal warten.

Ins Zimmer kommt jetzt ein Junge mit Nike-Schuhen. „Ja servus“, ruft der Metzger, aber der Junge will nicht Metzger werden, sondern Industriekaufmann. Er sagt, die Frau von der Arbeitsagentur hätte ihn geschickt und gemeint, beim Metzger könne man Kaufmann werden.

Stimmt nicht? Der Junge lacht. Dann geht er wieder.

Serkan Engin sagt, um das Handwerk zu retten, muss man erst mal gegen die Unwissenheit kämpfen – und gegen die Vorurteile. Gegen das elitäre Gerede vom Studium, dieser Akademisierungsdruck, der übrigens auch von den Eltern kommt. Nicht nur, aber auch. Serkan Engin sagt, er stand schon in Klassen, in denen ihn die Mädchen anstarrten: Herr Engin, Handwerk ist schmutzig. Die Jungs sagten: Handwerker sind asozial und können kein Deutsch. Und die Eltern lächelten, als hätte er einen Witz gemacht: Herr Engin, Handwerker haben doch keine Karrierechancen. Er hat Listen angefertigt, auf die er alle Vorurteile geschrieben hat, Folien, die er zeigt, wenn er in eine Klasse kommt, ganz am Anfang. „Handwerker arbeiten nur mit den Händen, nicht mit dem Kopf“ – „Handwerk ist unter meinem Niveau“.

Das sagte mal eine Achtklässlerin zu ihm, als er fragte, ob sie sich vorstellen könnte, Dachdeckerin zu werden. Sie saß da mit einem Täschchen und langen Fingernägeln, und da dachte sich Serkan Engin, gut, dann halt so. „Madel“, sagte er, „ohne Handwerker hättest du keine gefakte Louis-Vuitton-Handtasche. Ohne Handwerker hättest du keinen Strom für dein Glätteisen.“ Und als dann im Hintergrund die Jungs riefen „Haha, krass!“, machte er eine Ansage an alle: „Habt mal Respekt vor den Menschen, die Tag und Tag für uns arbeiten. Ohne die hätten wir unseren Luxus nicht.“

Wenn dann alle gucken, beginnt Serkan Engin mit seiner kleinen Rundreise, dann zeigt er Bilder von der chinesischen Mauer, 21 000 Kilometer lang, 2000 Jahre Bauzeit, Handwerk für die Ewigkeit. Bilder vom Marsrover, wo die Mädels manchmal „Oh mein Gott, Wall-E“ flüstern. Bilder von der Blauen Moschee in Istanbul, Blattgold, Keramikfliesen, Bilder aus Singapur, von Hotels, die aussehen, als wären sie aus Wolken gebaut.

Meistens ist es dann still, und er kann mit seiner eigentlichen Arbeit beginnen. Damit also, zu erzählen, dass ein Meisterbrief so viel wert ist wie ein Bachelorabschluss. Dass die Abbrecherquote auf den weiterführenden Schulen wahnsinnig hoch ist, weil alle weitermachen wollen mit der Schule, aber eigentlich gar kein Bock mehr haben. Dass ein angestellter Zimmermeister 3000 Euro brutto verdient und man mit Mitte zwanzig schon einen Betrieb leiten kann, was die Jungs gut finden, die sich alternativ vorstellen könnten, einfach berühmt zu werden.

So gesehen hat Serkan Engin zwar keine Wurst, aber eine Mission: Das Handwerk zu retten, und die jungen Leute gleich mit.

An Engins Stand kommt jetzt ein Mann mit gelbem T-Shirt, der sich als Sozialpädagoge outet, neben ihm ein Junge, der sagt, er heiße Murat. Murat sagt nicht viel, dafür redet der Sozialpädagoge umso mehr. Der Sozialpädagoge sagt, dass es dieses Jahr ganz schwer sei mit den Bewerbungen. Murat nickt. Es gab ja kaum Praktika. Und durch die Pandemie hätten sich viele Bewerbungen bei den Betrieben angestaut, der Markt ist also härter geworden. Und wie sollen da die schwächeren Schüler mithalten? Murat nickt. Außerdem, sagt der Sozialpädagoge, gebe es ein paar Geflüchtete, die eine Ausbildung brauchen für ihre Aufenthaltserlaubnis und jetzt nix haben. Und da guckt Murat sehr traurig.

Die Bertelsmann-Stiftung hat kurz vor Corona eine Umfrage an Ausbildungsbetriebe geschickt. Raus kam, dass vor allem Kleinst- und Kleinbetriebe in Zukunft weniger ausbilden möchten, oder gar nicht mehr. Das sind gleichzeitig die Betriebe, die Jugendliche mit Hauptschulabschluss nehmen. Und weil Serkan Engin mal einer von ihnen war, weil er weiß, wie es ist, wenn man ganz unten anfängt, sagt er jetzt zum Sozialpädagogen, dass er mal schaut, was sich für Murat machen lässt.

Und darum ging’s ja immer auch bei der Ausbildungsmesse im Herbst, die offiziell Lastminit-Messe heißt, weil sie dann stattfindet, wenn das Ausbildungsjahr schon angefangen hat. Da konnten die Lehrabbrecher kommen, die Stress mit dem Chef hatten. Schüler, die keine Antwort vom Betrieb bekommen oder sich gar nicht erst beworben haben, weil sie die Fristen verpennt hatten. „Hauptsache, du bist da“, sagte Serkan Engin dann.

Vielleicht ist er trotz allem deswegen gerne hier, weil er selbst nie studiert hat. Weil sein Vater kein Arzt war, sondern früher in Izmir die Schuhe von Touristen putzte, während seine Mutter nebendran bettelte. Später zogen die Eltern nach Neuburg an der Donau, die Mutter sagte, ihr Kind solle es mal besser haben. Ihr Prinz.

Er hasste die Schule, er langweilte sich, er mobbte die Jüngeren, schau dich an, wie du aussieht, weil er nicht wusste, wohin mit sich. Einmal schmiss ihn der Schulleiter raus, weil er im Unterricht ein Kondom aufblies und zur Lehrerin sagte, sie solle mal chillen, sei nur Kaugummi gewesen. Nachmittags saß er dann bei den Nachbarn, die ihm Knödel kochten und Sauerkraut und ihm bei den Hausaufgaben halfen. Ihr Seki.

Daran denkt er manchmal, wenn er vor den Schülern steht, an seine eigene Geschichte. Daran, dass er Glück hatte, weil es bei ihm ja immer weiterging. 14 Bewerbungen bei Audi, 14 Absagen, in Mathe hatte er eine Vier, in Englisch eine Fünf, dann kam er zur Handwerkskammer und zog eine Krawatte an. Seine Mutter sagte damals, jetzt hast du es geschafft, auch wenn sie bis heute gar nicht so genau weiß, was er macht. Jedenfalls keine Schuhe putzen in Izmir.

Weil immer noch nicht viel los ist, beschließt der Metzger jetzt, ein Instagram-Video zu drehen. Der Typ vom Fielmann-Stand findet die Idee großartig, er hält gleich mal die Tür zu, damit niemand reinkommt. Der Mann vom Hotel-Stand guckt in sein Handy und fragt, wo man hier eigentlich Mittagessen gehen könnte, sei ja schon nach elf. Nur der Azubi vom Dachdecker sagt, er könnte schon was drehen für Instagram.

Der Azubi vom Dachdecker ist 18, und er findet es gemein, dass seine Generation so hingestellt wird, als wäre sie faul und hätte nur Bock auf Instagram. Gut, er hat seine Stelle auch nur bekommen, weil seine Mutter vor Jahren mal auf der Messe war und ihm einen Flyer mitgebracht hat. Dann ist er hin, zum Dachdecker, und der Dachdecker sagte: Yo, passt.

Aber sonst reden immer alle nur darüber, wie schlimm Corona für die Studenten war, und keiner darüber, was das für Lehrlinge bedeutet hat. Der Azubi holt jetzt sein Handy raus, er will zeigen, was er gebastelt hat im Online-Unterricht. Er scrollt durch die Bilder, dann zeigt er einen Haufen Papierschnipsel. Das war ihr Projekt in der Berufsschule: Dachziegel aus Papier basteln, es durfte ja keiner rauf aufs Dach. Und was soll er sagen. „Uns hat einfach die Praxis gefehlt.“

Dann steht er auf und nimmt das Handy vom Metzger, der im Hintergrund schon geübt hat. „Ja servus“ – „Willkommen beim butchers tale“ – „Hier haben wir den Keulenkrieger und die Filet-Fee, da ist für jeden was dabei“. Und wenn das alles nicht so traurig wäre, könnte man fast meinen, hier entsteht gerade was Großes.

Es wundert ihn schon, sagt Serkan Engin an seinem Stand, dass das Image so schlecht ist. Trotz Corona. Es war ja eigentlich die perfekte Werbung, das krisensichere Handwerk, er hat das gleich mal an Schulen ausprobiert. Erst zeigte er Bilder von der leeren Allianz Arena. Dann erzählte er von Betrieben, die weiterarbeiteten. „In den dunkelsten Stunden wurden die Handwerker gebraucht“, sagte er am Ende. Meistens hatten die Lehrerinnen glänzende Augen, und es gab sogar den ein oder anderen Schüler, der zu erzählen anfing. Der sagte, mein Papa ist Schreiner, das ist eigentlich ganz cool. Ein anderer sagte, er hätte da noch eine Frage zu den Folien mit den Hotels in Singapur. Was es bringt, wenn man als Handwerker geile Hotels baut und dann selbst nicht drin wohnt. Da hat Serkan Engin gesagt: „Wenn du so was baust, Habibi, wenn du das Ergebnis vor Augen hast, wirst du stolz sein. Das werdet ihr lernen: stolz zu sein.“

Auf der Messe ist jetzt fast niemand mehr. Beim Metzger ist es still geworden, er sagt, es war kein einziger Bewerber dabei, der infrage käme, trotz Wurst. Jetzt mal gucken, er hat ja das Video für Instagram. Der Typ vom Fielmann-Stand reibt sich die Hände, weil ein Schüler tatsächlich Interesse hat, nein, nein, nicht an einer Bewerbung, sondern an einem Schnuppertag.

Serkan Engin steht am Stand der Handwerkskammer, ohne Wurst, aber mit einem winzig kleinen Stapel Bewerbungen. Neun Stück. Er hat sie gezählt, zählt sie aber gleich noch mal. Neun. Und so war es doch schon immer: Manchmal geht es um die Wurst, und manchmal auch um was ganz anderes.

Weniger…
„Das ist ein Buch“, sagt er dann, „das ist eine tolle Erfindung. Da stehen 130 Berufe drin, und wenn jemand auf das Handwerk pfurzt, pfurzt der auch auf 130 Berufe.“


Lernt doch was Vernünftiges

Samstag, 26. Mai 2018, Artikel 8/18, Samstagsessay der Süddeutschen von Janis Beenen

Viele Jugendliche streben nach Abitur und Studium. An eine Ausbildung im Handwerk denken sie nicht. Ein Fehler, denn die Aufstiegschancen sind gut. Höchste Zeit also, etwas gegen den Akademisierungswahn zu tun. Um attraktiv zu werden, muss das Handwerk bei der Digitalisierung mitziehen. 

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Ganzer Text…

Das smarte Zuhause braucht einen smarten Handwerker, und deshalb wird die Arbeit des Handwerkers künftig immer häufiger auch so aussehen: Er legt sein Werkzeug beiseite, den Schraubenschlüssel oder Akkuschrauber, tippt das Wlan-Passwort ein und verbindet seinen Laptop mit dem Hausnetz. Denn das Außenthermometer, das er gerade angebracht hat, kommuniziert direkt mit der Heizung. Wird es draußen kalt, wird es drinnen warm. Schöne Zukunftsaussichten also für eine ganze Branche - die in der Gegenwart mit großen Personalsorgen kämpft, weshalb manche Handwerker so überlastet sind, dass sie oft gar nicht mehr ans Telefon gehen. Noch ein Auftrag? Oh nein, bitte nicht!
Denn viele Schüler wollen alles werden, nur nicht Handwerker. Tausende Lehrstellen sind unbesetzt, weil die meisten an die Hochschulen drängen. Bildungsforscher haben das Phänomen vor ein paar Jahren "Akademisierungswahn" genannt. Nur Abi und Studium zählen noch, zu wenige wollen mit ihren Händen arbeiten. Dieser Wahn führt dazu, dass viele junge Menschen studieren, um dann anschließend festzustellen, dass dies doch nichts für sie ist: Mehr als 30 Prozent der Bachelor-Studenten brechen ab. Die Gründe sind in der Regel mangelnde Leistung - und der Wunsch nach einer praktischen Tätigkeit. Der Druck zur akademischen Karriere verhindert Selbstverwirklichung.
Diesen Trend muss Deutschland stoppen, ja: umkehren. Das Land braucht nicht nur Menschen mit akademischen, sondern auch mit praktischen Qualifikationen. Drei gewaltige Umwälzungen sind notwendig, damit wieder mehr junge Leute Handwerker werden. Erstens: Schüler müssen besser über die Möglichkeiten informiert werden, die diese Berufswahl für sie bringt. Zweitens: Die Ausbildung muss aufgewertet werden. Drittens: Das Handwerk muss sich modernisieren.
Dass vor allem Gymnasiasten keine Lust auf eine Lehre haben, daran ist auch die Schule schuld. Die Vorstellungen vieler Abiturienten von einer Ausbildung sind verzerrt. Knapp 30 Prozent der Gymnasiasten fühlen sich schlecht über Ausbildungsangebote informiert, zeigt eine Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. Über das Studium denken nur halb so viele so. Viele Gymnasiasten vermuten, sie hätten nach einer Lehre weniger Einkommen - und wären häufiger von Arbeitslosigkeit bedroht. Doch das ist ein Klischee. Die Arbeitslosenquote von Handwerksmeistern beträgt weniger als drei Prozent, das ist ähnlich gering wie bei Hochschulabsolventen. In etlichen Fällen stehen Handwerksmeister finanziell besser da als Akademiker. Im Durchschnitt verdient ein Meister in seinem Berufsleben beispielsweise etwa 100 000 Euro mehr als ein Uni-Absolvent mit dem Fach Soziale Arbeit und 30 000 mehr als eine Architektin oder Bauingenieurin. Das hat das Ifo-Institut vorgerechnet. Dazu kommen sehr gute Aufstiegschancen: 200 000 Betriebe brauchen in den nächsten Jahren einen neuen Chef, weil der Inhaber zu alt sein wird, um das Geschäft noch zu führen.
Man kann also als Handwerker gesellschaftlich aufsteigen. Viele Eltern aber drängen ihre Kinder zum Studium - damit sie es mal besser haben als man selbst. Vor allem bei Nicht-Akademikern lebt die Hoffnung auf den sozialen Aufstieg, den Jura, Medizin oder ein Lehramtsstudium versprechen, obwohl das auch eine Karriere im Handwerk erfüllen kann.
Damit das Handwerk besser bei Schülern ankommt, müssen auch die Schulen ran. In die Lehrpläne gehört eine systematische Berufsorientierung. Gymnasiasten sollen im Unterricht verstehen, dass Menschen ohne Bachelor und Master ein respektables, glückliches Leben führen können. Schulen sollten zwei Stunden pro Woche Vertreter aus verschiedenen Bereichen der Arbeitswelt ins Klassenzimmer holen. Natürlich dürfen auch Akademiker kommen, aber vor allem sollen örtliche Handwerksmeister vor den Schülerinnen auftreten. Nur so ist es möglich, die soziale Blase vieler Jugendlicher anzupiksen, in der nur das Studium zählt. Zahlreiche Handwerker haben Lust, sich einzubringen. Vertreter der Fachverbände besuchen in manchen Städten schon Elternabende, um für ihr Gewerbe zu lobbyieren. Auch Baden-Württemberg ist schon auf einem guten Weg. Dort gibt es ein Schulfach namens "Wirtschaft/Berufs- und Studienorientierung".
Die Interessensvertreter der Handwerker müssen durch kluge Werbung das Image ihrer Branche ändern. Mithilfe der Kampagne "Das Handwerk. Die Wirtschaftsmacht. Von nebenan." bemüht sich der zentrale Branchenverband, seine Bedeutung deutlich zu machen. Auf Werbeplakaten stehen Slogans wie "Ich bin nicht nur Handwerker. Ich bin der Motor, der Deutschland antreibt". Ein netter Versuch, den Jobs das Miefige zu nehmen. Allerdings bleibt das hinter moderner Arbeitnehmerwerbung zurück. Die Plakate erklären nicht, was man als Motor der Wirtschaft den ganzen Tag macht.
Stattdessen wäre es wichtig, dem Einzelnen konkret zu vermitteln, was ihn erwartet. Das Handwerk kann von der Deutschen Bahn lernen. Die hat auch mit Fachkräftemangel zu kämpfen, schafft es aber jedes Jahr, Tausende Neulinge zu gewinnen. In einem Ranking des Marktforschers Trendence, der die Wunscharbeitgeber von Schülern ermittelt, ist die Bahn zuletzt aufgestiegen. Das liegt auch an der gelungenen Personalwerbung. "Du willst Weichen stellen - für unsere Züge und Deine Zukunft", lautet der Slogan für die Ausbildung zum Fahrdienstleiter. In Stellenausschreibungen direkte Ansprache mit dem tatsächlichen Arbeitsinhalt zu verbinden, das stünde auch dem Handwerk gut an. Tischler könnten zum Beispiel mit dem Foto einer schönen Küche werben und dem Slogan: "Den neuen Familientreffpunkt gestalten? Du machst das!"
Für das Studium ziehen junge Leute wie selbstverständlich um, Studentenstädte sind beliebte Wohnorte. Viele Handwerksbetriebe sitzen in kleineren Städten oder auf dem Land. Auch manche junge Menschen leben dort lieber als in der hektischen Großstadt, andere benötigen einen Anreiz: mehr Geld. Um als Arbeitgeber attraktiv zu werden, brauchen Auszubildende im Handwerk ein Mindestgehalt von 1000 Euro. Bisher bekommen Lehrlinge oft beschämend wenig, sogar in Bereichen, die extrem gefragt sind. Elektroniker verdienen zu Beginn der Lehre im Durchschnitt etwa 750 Euro, nach vier Jahren sind es nur etwa 900 Euro. Für etliche andere Gewerke ist die Vergütung noch schlechter. Es verwundert deshalb nicht, dass das Handwerk Bewerber an Konkurrenten verliert: Azubis im öffentlichen Dienst, in der Industrie und im Handel verdienen mehr. Höhere Gehälter sind keine Belastung für das Handwerk, sondern eine notwendige Investition in die Zukunft.
Hinzu kommt: Monatskarten für Bus und Bahn sind für Auszubildende oft teurer als für Studenten, die günstig mit dem Semesterticket unterwegs sind. Dabei ist mangelnde Mobilität ein häufiger Grund, warum Schüler und Betriebe nicht zueinanderfinden. Wenn Jugendliche auch zwei Orte weiter eine Ausbildung machen sollen, geht das nur mit vernünftigem öffentlichen Personennahverkehr - und nicht mit Bussen, die alle paar Stunden fahren. Die Träger des lokalen ÖPNV müssen Azubis subventionieren, das ist gut angelegte Regionalförderung. Außerdem müssen die Gebühren für die Meisterschule - immerhin bis zu 10 000 Euro - abgeschafft werden. Solche Kosten müssen Bachelor-Studenten auch nicht tragen.
Das Handwerk muss bei der Digitalisierung von der Industrie lernen
Wer nach der Schule Handwerker wird, wird ein halbes Jahrhundert in dem Beruf arbeiten. In dieser Zeit wird die Arbeitswelt sich wandeln und noch digitaler werden, und deshalb muss sich auch das Handwerk wandeln. Noch sind Handwerker zu sehr Dienstleister, die gerufen werden, um beispielsweise eine Wand zu streichen; manche Tätigkeiten kann in Zukunft aber auch ein Roboter übernehmen. Der Handwerker der Zukunft muss also den Berufen der Hochleistungsindustrie ähnlicher werden. Er ist als industrialisierter Dienstleister unersetzbar in der modernen Gesellschaft. Der Schreiner kann mit dem 3-D-Drucker das Modell für den neuen Kleiderschrank entwickeln, der perfekt in die Schlafzimmerecke passt, statt nur Holzplatten zusammenzubauen. Auch wenn Letzteres bislang kundig geschieht: Der Handwerker, der nicht zusätzliche Dienste anbietet, wird es künftig schwerer haben.
Das Jobprofil der Handwerker muss geweitet werden. Sie sollten fähig sein, sich beständig weiterzuentwickeln. Mehr als 60 Prozent schätzen die Digitalkompetenz ihres Betriebs als mittel bis niedrig ein, ergab eine Befragung der Handwerkskammer München und der Technischen Universität München. Das ist alarmierend. Junge Leute müssen unabhängig vom künftigen Beruf Bescheid wissen, wie sie Daten in der Cloud speichern, welche sozialen Medien für Kundenkontakte nutzbar sind und wann es sinnvoll ist, eine Datenbrille aufzusetzen. Sie können diese Impulse in Unternehmen bringen und verhindern, dass diese technisch abgehängt werden.
Aber das reicht nicht, zusätzliche IT-Kenntnisse sind notwendig. Handwerker sollten wenigstens Kleinigkeiten programmieren können, um mitentwickeln zu können, wie ihre Angebote in die smarte Realität passen. Da überhaupt nicht absehbar ist, wie die Welt 2040 funktionieren wird, reicht eine einmalige Vorbereitung in der Lehre nicht aus. Die örtlichen Handwerkskammern müssen den aktuellen und zukünftigen Arbeitern mit Fortbildungen lebenslanges Lernen ermöglichen, praxisnah und zukunftsgetrieben. Etliche Angebote sind bereits am Markt. Aber Kurse in Word und Powerpoint werden das Handwerk nicht retten.
Das wird alles nicht leicht. Aber Deutschland hat gute Voraussetzungen, um es hinzubekommen. Das duale Ausbildungssystem verbindet schon oft und gut Theorie und Praxis, zudem wird die starke Wirtschaft dafür sorgen, dass qualifizierte Handwerker immer gefragt sind.
Am Ende aber müssen sich die jungen Leute immer noch selbst dafür entscheiden, Handwerker zu werden. Im Sinne des oben erwähnten, fiktiven Werbeslogans gilt: Du machst das!

Weniger…
Karriere im Handwerk