Mit unwahren Behauptungen stellen vermeintliche Experten die Maßnahmen zur
Eindämmung der Corona-Pandemie in Frage. Wir entlarven die gröbsten Lügen und
Missverständnisse.
Die „Corona-Grippe” ist so ein Wort. Die Neuschöpfung suggeriert, dass
Covid-19 nicht schlimmer als die Influenza sei. Das ist ebenso falsch wie viele
weitere Behauptungen, die sich über Youtube und andere Kanäle verbreiten - und
dazu benutzt werden, die Infektionsschutzmaßnahmen in Frage zu stellen.
Es sind Lügen darunter, unzulässige Verkürzungen und Simplifizierungen,
falsche Schlussfolgerungen aus richtigen Tatsachen - und manchmal wohl auch nur
Missverständnisse. Gefährlich sind sie alle. Die SZ-Wissensredaktion
hat die verbreitetsten Aussagen der Skeptiker einem Faktencheck
unterzogen.
Süddeutsche vom 20.05.2020
Behauptung 1:
Es ist kein neuer Erreger; Coronaviren gibt es schon
immer
Richtig ist: Coronaviren im Allgemeinen gibt es tatsächlich
schon sehr lange. Die Frage ist, was das bedeutet. Es gibt immerhin auch schon
sehr lange Affen. Trotzdem sind Affen sehr verschieden und eine der jüngeren
Affenspezies ist der Mensch. Das ist Evolution. Sie findet bei Coronaviren
genauso statt wie bei Tieren oder Pflanzen. Nur dass sie im Reich der Viren
deutlich rasanter verläuft – und praktisch andauernd neue Erreger
hervorbringt.
Der letzte gemeinsame Vorgänger der derzeit beschriebenen vier Stämme von
Coronaviren existierte vermutlich schon vor 300 Millionen Jahren. Die aktuellen
vier Stämme umfassen bislang 46 bekannte Coronavirus-Arten, hinzu kommen
zahlreiche Unterarten, die hauptsächlich Säugetiere, aber auch Vögel und Fische
infizieren und eifrig in den Wirten zirkulieren. Dabei vermehren und verändern
sie sich schnell und stetig, passen sich an, vermischen Teile ihres Erbguts,
springen auf andere Wirte. So entstehen natürlicherweise immer wieder neue
Coronaviren. Einige wenige können Krankheiten von unterschiedlicher Symptomatik
und Schwere auch beim Menschen auslösen.
Für den Menschen waren vor der ersten Sars-Pandemie 2002 zwei krankmachenden
Coronaviren bekannt. HCoV-229E and HCoV-OC43 führen zu Erkältungen und nur
selten zu schweren Komplikationen, was auch daran liegt, dass sie schon
Jahrzehnte mit dem Menschen koexistieren. Inzwischen kennen Forscher vier solche
Erkältungsviren aus der Coronafamilie, die in der Schnupfenzeit zurückkehren.
Neue Coronaviren jedoch, zu denen neben Sars-CoV-1 das Mers-Coronavirus und nun
auch Sars-CoV-2 gehören, bringen besondere Eigenschaften mit sich; molekulare
Innovationen, die dem menschlichen Körper und seinen Zellen besonders zu
schaffen machen können – und deshalb besonders gefährlich sind. Kathrin
Zinkant
Behauptung 2:
Die Zahl der Infektionen nimmt nur zu, weil mehr
getestet wird.
Dieser Idee scheint auch US-Präsident Donald Trump
anzuhängen. Er sagte kürzlich: Wer teste, finde auch Fälle. „Wenn wir nicht mehr
testen würden, hätten wir nur sehr wenige Fälle.“ Aber da liegt halt der Fehler
des US-Präsidenten und aller, die so denken: Es würde auch ohne Virustest Fälle
geben, Menschen müssten in Krankenhäusern behandelt werden, damit sie nicht
sterben. Viele würden es nicht schaffen. Sie würden ohne Virustest allerdings
nicht in die Coronastatistik einfließen.
Es ist richtig, dass man mehr findet, wenn man gründlicher sucht. Um da nicht
in die Irre zu laufen, muss man die Zahl der Tests mit den gefundenen Fällen ins
Verhältnis setzen. Dieser Anteil der positiven Virustests an der Gesamtheit der
Tests ist im März von Woche zu Woche gestiegen und erreichte in der ersten
Aprilwoche mit 9,0 Prozent den vorläufigen Höhepunkt. Auch die Zahl der Tests
ist in diesem Zeitraum dramatisch angestiegen nämlich von 127 000 pro Woche
Anfang März auf 400 000 pro Woche Anfang April. Doch ausgerechnet in der Woche
mit der höchsten Testzahl war auch der Anteil der positiven Tests am höchsten.
Wäre an dem Glauben, die Zahl der Infektionen war nur so hoch, weil so viel
getestet wurde, was dran und tatsächlich sind kaum noch neue Fälle hinzu
gekommen, hätte der Anteil der positiven Tests sich nicht verändern dürfen.
Seit dem Höhepunkt im April fällt der Anteil wieder deutlich. In der ersten
Maiwoche lag der Anteil positiver Tests bei 2,7 Prozent, obwohl die Zahl der
Tests nicht so stark abgenommen hat. Das ist ein gutes Zeichen. Aber eben auch
ein Zeichen dafür, wie wichtig es ist, viel und breit zu testen. Nicht nur, um
die Zahlen in Statistiken zu füllen, sondern vor allem, um Infektionsketten zu
unterbrechen und das Virus zu stoppen. Wie gut das auch dank vieler Tests
funktioniert, zeigt sich in der sinkenden Zahl, der täglich neu diagnostizierten
Fälle. Hanno Charisius
Behauptung 3:
Die Krankheitswelle ebbte schon vor Beginn der
Schutzmaßnahmen ab.
Für Kritiker ist die Sache einfach: Am 23. März
traten in Deutschland weitreichende Kontaktverbote in Kraft, doch der Wendepunkt
war da längst erreicht. Schon am 22. März nämlich sank der berühmte R-Wert nach
einer Schätzung des Robert-Koch-Instituts leicht unter die Marke von 1. Das
heißt, ein Infizierter steckte im Mittel weniger als einen anderen an. Alles
überflüssig also? So simpel ist es nicht.
Denn zum einen ist der 23. März nicht das eine entscheidende Datum, an dem
Deutschland zum Stillstand kam. Die Infektionsschutzmaßnahmen begannen schon um
den 8. März mit der Absage von Großveranstaltungen, damals lag R noch bei 3. Es
folgte die Schließung von Schulen, Geschäften und Gaststätten am 16. März. R lag
zu diesem Zeitpunkt zwischen 1 und 2. Unabhängig davon mahnte die
Bundesregierung schon ab 13. März, Sozialkontakte einzuschränken. Zur selben
Zeit untersagten die besonders betroffenen Bundesländer Bayern und
Baden-Württemberg Besuche in Altenheimen. Firmen begannen, ihre Mitarbeiter ins
Homeoffice zu schicken. Mobilitätsdaten zeigen, dass sich die Menschen bereits
in den ersten beiden Märzwochen deutlich weniger bewegten. Die Einschränkung des
öffentlichen Lebens lässt sich also nicht auf ein Datum festnageln.
Zum anderen aber ist R nicht die magische Größe, mit der sich der Verlauf der
Epidemie zweifelsfrei vermessen lässt. Wie alle epidemiologischen Kennziffern
hat der Wert Unsicherheiten - und sollte deshalb gemeinsam mit anderen
Indikatoren betrachtet werden. Zum Beispiel den Neuerkrankungen: Die Kurven des
RKI zeigen, dass die Zahl der neuen Fälle erst nach der letzten Maßnahme, ab
Anfang April, deutlich abnahm.
Ähnliches zeigten Forscher vom Max-Planck-Institut für Dynamik und
Selbstorganisation, die den täglichen Zuwachs an Neuerkrankungen analysierten.
Anfang März stiegen die neuen Fälle von Tag zu Tag um 30 Prozent. Mit jeder
Maßnahme, die die Bundesregierung verfügte, schrumpfte die Wachstumsrate. Doch
erst nach der dritten Intervention, den Kontaktbeschränkungen, gab es gar keine
Zunahme mehr; es erkrankten weniger Menschen als zuvor.
Zusammengenommen sprechen diese Daten dafür, dass das Bündel an Maßnahmen
dazu beigetragen hat, die Epidemie einzudämmen und auf einem niedrigem Niveau zu
halten. Komplett raus aus der Gefahr war Deutschland um den 23. März mitnichten
(und ist es auch heute nicht). Bei einem R-Wert nur knapp unter 1 kann die
Situation leicht wieder kippen, die Infektionszahlen würden dann erneut
exponentiell steigen. Aus diesem Grund war es sinnvoll, das Risiko des Rückfalls
durch mehrere unterschiedliche Maßnahmen gering zu halten.
Es wird sich nicht sicher sagen lassen, welche Maßnahme an welchem Tag
welchen Effekt hatte. Sicher aber ist, dass es nicht ausreicht, eine einzelne
Schätzung eines einzelnen Wertes an einem einzelnen Tag aus einem komplexen
Geschehen herauszupicken, um Wirkung oder Versagen aller Maßnahmen zu bestimmen.
Berit Uhlmann
Behauptung 4:
Die Kollateralschäden sind gravierender als die
Folgen der Pandemie.
Am Anfang der Corona-Krise prophezeiten
Skeptiker: „Man wird nicht einmal eine Erhöhung der Sterbezahlen sehen.“
Inzwischen ist die Erhöhung da, selbst im nur milde von der Pandemie getroffenen
Deutschland. Für die ersten drei Aprilwochen wies das Statistische Bundesamt
eine deutliche Übersterblichkeit aus – erheblich mehr Todesfälle also als im
Durchschnitt der Vorjahre. Es starben 5 294 Menschen „zu viel“, das ist ein Plus
von rund zehn Prozent. Seit die Übersterblichkeit nicht mehr zu leugnen ist, hat
sich die Argumentation der Skeptiker gewandelt. Sie lautet jetzt: „Die erhöhte
Zahl der Todesfälle geht nicht auf das Coronavirus zurück. Sie ist die Folge des
Lockdowns.“
Tatsächlich dürften nicht alle der mehr als 5 000 Menschen direkt an
Sars-CoV-2 gestorben sein. Die wirtschaftliche Rezession fordert ihre Opfer
ebenso wie die psychische Belastung durch die Isolation und die Ängste vor Virus
und Armut; Operationen und Krebsbehandlungen wurden verschoben, viele Menschen
mieden den Besuch in der Klinik – selbst solche mit einem Herzinfarkt. All diese
Entwicklungen führten und führen gewiss zu Todesfällen. Allerdings gab es etwa
in Italien späte, dann aber sehr vergleichbare Maßnahmen zur Eindämmung von
Sars-CoV-2 – und erheblich mehr Tote. Wie groß der Anteil der medizinischen und
psychologischen Folgeschäden an der Übersterblichkeit sein wird, lässt sich
frühestens im August 2021 feststellen. Dann erst wird das Statistische Bundesamt
die Todesursachenstatistik für 2020 vorlegen. Bis dahin ist die Rückführung der
Übersterblichkeit auf die Corona-Maßnahmen einfach nur: einseitige
Interpretation. Christina Berndt
Behauptung 5:
Covid-19 ist nicht gefährlicher als die
Grippe
Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Und der Vergleich
von Covid-19 mit der Grippe hinkt gewaltig. Es gibt Unterschiede auf vielen
Ebenen: Kommt es zu schweren Verläufen, ist die Infektion mit Sars-CoV-2
gefährlicher, beeinträchtigt mehr Organe und führt zu einer höheren
Sterblichkeit als eine Infektion mit Influenza-Viren.
Beide Erkrankungen befallen als erstes Organ nach dem Rachen die Lunge. Bei
der Grippe bleibt es dabei. Zwar erleiden Patienten bei schwerer Virusgrippe
auch häufiger Infarkte, oder eine Herzinsuffizienz verschlimmert sich, weil der
Körper geschwächt ist und ein eventuell vorgeschädigtes Herz schneller versagt.
Doch bei Covid-19 werden fast alle Organe in Mitleidenschaft gezogen,
buchstäblich von Kopf bis Fuß. Das Virus nutzt den ACE-2-Rezeptor als
Eingangspforte in die Zellen, und der kommt fast überall im Körper vor.
Ärzte haben daher früh gefordert, neben Beatmungsgeräten auch Dialysegeräte
anzuschaffen. Viele Covid-Patienten starben an Nierenversagen, gestörter
Blutgerinnung oder Herzversagen. „Wir haben Patienten mit fulminanten Embolien
gesehen“, sagt Intensivmediziner Stefan Kohlbrenner aus Freiburg. „Es kommt zum
Multiorganversagen. Bei der Grippe muss man vom Ein-Organ-Versagen der Lunge
sprechen.“
Kardiologen haben gerade im Fachblatt Jama Cardiology gezeigt, dass akute
Herzschäden bei 22 Prozent der Patienten mit Covid-19 beobachtet wurden. Bei der
Grippe liegt der Anteil bei einem Prozent. Infarkte, Thrombosen, Embolien,
Nierenversagen, aber auch Schlaganfälle und kognitive Ausfälle nach Infektionen
mit Sars-CoV-2 wurden vielfach beschrieben. Deshalb ist die Sterblichkeit bei
schweren Verläufen mit Covid-19 ungleich größer als bei der Grippe.
In der Diskussion um die Sterblichkeit kursiert oft die Zahl von 25 000 Toten
in der besonders schlimmen Grippesaison 2017/18. Corona-Tote gibt es in
Deutschland bisher knapp 8000, womöglich sind es bis Sommer 10 000. Die Zahl ist
deswegen niedriger, weil von März an drastische Einschränkungen galten, sonst
hätte es mehr Opfer gegeben.
Zudem wurden in der ungewöhnlich schweren Grippesaison 2017/18 tatsächlich
„nur“ 1674 Todesfälle an Grippe im Labor bestätigt. Da in Jahren, in denen die
Grippe stark wütet, mehr Menschen sterben als sonst („Übersterblichkeit“) und
Influenza oft nicht als Todesursache angegeben wird, stellt das RKI jedoch
Hochrechnungen an, wie hoch die tatsächliche Zahl der Opfer sein könnte. So
kommen die 25 000 Todesfälle für 2017/18 zustande. In der elfwöchigen
Grippesaison 2019/20, die beendet ist, liegt die Zahl der Todesopfer bei
509.
Gegen die Grippe gibt es zudem eine Impfung und eine – wenn auch schwache –
Therapie. Insofern sind die Menschen dem Virus nicht völlig schutzlos
ausgeliefert, wie es die Welt gegenüber Sars-CoV-2 ist. Werner
Bartens
Behauptung 6:
Alle Covid-19-Opfer wären ohnehin in Kürze
gestorben
Richtig ist: Es gibt bei Covid-19 –wie bei anderen
Erkrankungen auch – Risikofaktoren, die einen schweren oder gar tödlichen
Verlauf wahrscheinlicher machen. Auch sterben vor allem ältere Menschen nach
einer Coronavirus-Infektion, in Deutschland sind die Verstorbenen im Schnitt 81
Jahre alt. Eine Untersuchung zu Corona-Toten aus Italien, die allerdings nur auf
Daten aus den Krankenakten beruht, ergab, dass 96 Prozent der Verstorbenen
mindestens eine Vorerkrankung hatten.
Genau diese These belegen auch Obduktionsergebnisse des Rechtsmediziners
Klaus Püschel in Hamburg. Diese sind allerdings nur eine sehr kleine Stichprobe
und lassen keine Aussage darüber zu, wie viel Lebenszeit die Infektion mit
Sars-Cov-2 die einzelnen Personen gekostet hat. Ein genauerer Blick auf die
mittlerweile als besonders kritisch eingestuften Vorerkrankungen zeigt auch: Es
handelt sich dabei keinesfalls nur um Leiden, die auch ohne eine
Corona-Infektion innerhalb kürzester Zeit zum Tod geführt hätten – sondern meist
um „Zivilisationskrankheiten“ wie Übergewicht, Bluthochdruck oder Diabetes.
Zudem steht die Forschung immer noch am Anfang, wie genau das neuartige
Coronavirus im Körper wütet.
Dachte man anfangs noch, es handele sich in erster Linie um eine
Lungenkrankheit, zeigen neue Studien, dass oft auch weitere Organe befallen
werden. Das wiederum bedeutet, dass eine bestimmte Vorerkrankung mit einem
möglichen Tod nach einer Corona-Infektion gar nicht zwingend etwas zu tun haben
muss. Aus Modellrechnungen haben schottische Forscher gefolgert, dass selbst
alte Menschen oder Vorerkrankte noch mehrere Jahre gelebt hätten, wenn sie sich
nicht mit dem Coronavirus angesteckt hätten: „Die meisten Menschen verlieren
durch eine Infektion mit Covid-19 deutlich mehr Lebenszeit als die oft
kommentierten ein oder zwei Jahre“, resümieren die Wissenschaftler.
Und auch das Robert-Koch-Institut schreibt: „Schwere Verläufe können auch bei
Personen ohne bekannte Vorerkrankung auftreten und werden auch bei jüngeren
Patienten beobachtet.“ Auch zeigen Statistiken aus besonders vom Coronavirus
betroffenen Gebiete, dass dort zuletzt deutlich mehr Menschen starben. So
verzeichnete zum Bespiel die norditalienische Stadt Nembro auf dem Höhepunkt der
Pandemie elfmal mehr Todesfälle als im Vorjahreszeitraum. Christina
Kunkel
Behauptung 7:
Ein fittes Immunsystem ist ein Garant gegen
Covid-19
In zahlreichen Youtube-Videos ist zu hören, dass ein
„gesundes“ Immunsystem der beste Schutz sei vor einer Infektion mit Sars-CoV-2
und anschließender Erkrankung. Diese Aussage ist nicht eindeutig falsch oder
richtig – und stiftet so schnell Verwirrung. Richtig ist, dass Patienten, deren
Immunsystem nicht in vollem Umfang arbeitet, etwa aufgrund einer chronischen
Erkrankung oder durch Behandlung mit sogenannten Immunsuppressiva, ein besonders
hohes Risiko haben, selbst an eigentlich harmlosen Erregern wie einem
Erkältungsvirus schwer zu erkranken. Diese Menschen zählen daher auch in der
Corona-Pandemie zur Hochrisikogruppe.
Als wissenschaftlich belegt gilt auch, dass etwa chronischer Stress das
Immunsystem beeinflussen kann, weshalb es – völlig unabhängig von Sars-CoV-2 –
immer gut ist, möglichst gesund zu leben.
Der Umkehrschluss allerdings ist nicht grundsätzlich korrekt. So suggeriert
die oft verwendete Formulierung des „gesunden“ Immunsystems, dass jeder sich mit
einem entsprechenden Lebensstil vor einer Infektion und einem anschließend
schweren Verlauf von Covid-19 schützen kann. Jeder müsse nur, so die These,
gesund leben – und schon verliert das Virus an Bedrohung. Doch so einfach ist es
nicht. Denn die üblichen Empfehlungen wie Teetrinken oder Wechselduschen,
schützen weder vor einer Sars-CoV-2-Infektion, noch helfen sie bei einer
schweren Covid-19-Erkrankung, sagt Christine Falk vom Institut für
Transplantationsimmunologie der Medizinischen Hochschule Hannover.
Für die Frage, welchen Verlauf die Krankheit nimmt, spielt tatsächlich das
Immunsystem eine große Rolle, denn besonders eine Überreaktion der körpereigenen
Abwehr kann verheerende Folgen haben. Viele Details aber sind bislang noch nicht
geklärt.
Bekannt ist, dass eher junge Patienten nur milde Symptome verspüren, während
ältere Personen häufiger auf einer Intensivstation behandelt werden müssen. Dies
liegt vermutlich an zwei verschiedenen Abwehrstrategien, der angeborenen und der
adaptiven Immunabwehr, die im Alter – grob vereinfacht – nicht mehr so gut
zusammenspielen. Das aber bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass junge, fitte
Menschen grundsätzlich geschützt sind. Im Gegenteil: Auch Patienten, die als
kerngesund galten, sind bereits an Covid-19 erkrankt und gestorben. „In vielen
Fällen bleibt leider unklar, warum es ausgerechnet diese Menschen erwischt hat“,
sagt Falk.
Vermutlich hänge die Schwere des Verlaufs damit zusammen, wie tief das Virus
in die Lunge vordringt, so Falk. Kommt es in den Alveolen, also in jenem
Bereich, in dem Sauerstoff ins Blut übertritt, zu einer heftigen
Entzündungsreaktion, kann sich von dort aus das Virus im gesamten Körper
ausbreiten und weitere Organe befallen. Am Ende bleibt die Erkenntnis: Wer sich
schützen möchte, muss eine Infektion nach aller Möglichkeit verhindern. Felix
Hütten
Behauptung 8:
Hinter allen Maßnahmen steht Bill
Gates.
Eines der großen Feindbilder in der Corona-Mythologie ist
Bill Gates. Er habe das Coronavirus Sars-CoV-2 in einem Labor erschaffen lassen
und wolle sich nun an Impfstoffen gegen Covid-19 bereichern, Menschen bei der
Impfung einen Chip einpflanzen lassen, um sie zu manipulieren, eine globale
Gesundheitsdiktatur errichten und aus Kindern ein Verjüngungselixier gewinnen.
So lauten manche der Vorwürfe, die sich gerade gegen Gates im Netz verbreiten.
Für keine dieser Behauptungen gibt es einen ernst zu nehmenden Beleg.
Fakt ist: Der Microsoft-Gründer und Selfmade-Multimilliardär war jahrelang
unangefochten der reichste Mann der Welt. Inzwischen wird er immer wieder auf
Platz Zwei zurückgedrängt, aktuell vom Amazon-Gründer Jeff Bezos. Der Grund
dafür liegt darin, dass Gates in den vergangenen Jahren rund ein Drittel seines
Vermögens von geschätzt 110 Milliarden Dollar in eine Stiftung gesteckt hat. Bis
zu seinem Lebensende sollen 95 Prozent seines Geldes in die „Bill and Melinda
Gates“-Stiftung fließen, kündigte er an.
Mit dieser Stiftung unterstützen Gates und seine Ehefrau Melinda humanitäre
Projekte in aller Welt. Im Fokus standen bislang vor allem Projekte zur
Eindämmung von Aids, Malaria, Kinderlähmung und Tuberkulose. Auch setzt sich die
Stiftung für Bildung, gegen Genitalverstümmelung und für einen fairen Zugang zur
Empfängnisverhütung ein. Die Stiftung gilt heute als größter privater Geldgeber
in der Entwicklungshilfe. Vor neuartigen Viren warnt Gates schon seit
Jahren.
Nicht alle Aktivitäten der Stiftung wurden immer positiv aufgenommen, es gab
auch manche Fehlentscheidungen. So führten einzelne Projekte zu negativen
Entwicklungen in Nachbarländern, weil zum Beispiel Ärzte durch attraktive
Gehälter abgezogen wurden. Jüngst kam zudem Kritik auf, weil Spenden der „Bill
and Melinda Gates“-Stiftung mittlerweile knapp zehn Prozent der zweckgebundenen
Spenden der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellen. Solche Spenden machen 77
Prozent des WHO-Budgets aus (den Rest tragen Regierungen), und sie geben der WHO
aufgrund der Zweckbindung zweifelsohne eine Richtung vor. Trotz mancher Kritik
sind sich Entwicklungshelfer mittlerweile einig, dass die Gates-Stiftung zu
einem unverzichtbaren Player in der weltweiten Entwicklungshilfe geworden ist.
Und die Eheleute Gates haben gelernt: Sie arbeiten inzwischen nicht nur mit der
WHO, sondern mit zahlreichen großen und kleinen Organisationen zusammen.
Christina Berndt
Behauptung 9:
Schweden macht alles besser. Auch ohne Maßnahmen
gibt es dort nur wenige Infizierte.
Offene Schulen und Kindergärten,
belebte Restaurants und Cafés, Einkaufen, wo man möchte, sogar ohne Maske - und
trotzdem nur rund 30 000 bestätigte Infektionen mit dem Coronavirus. Nicht
wenigen neidvollen Bewohnern aus dem Rest Europas erscheint Schweden derzeit wie
das einzige Land, das seinen Bürgern noch Rechte zugesteht und sich von einer
vermeintlichen Corona-Hysterie nicht infizieren ließ. Und ebenfalls nicht wenige
wünschten sich, man hätte es in Deutschland einfach genauso gemacht und auf eine
allmähliche Durchseuchung gesetzt, an deren Ende eine sogenannte Herdenimmunität
stehen könnte.
Hat man aber glücklicherweise nicht. Warum das ein Glück ist, offenbart der
etwas genauere Blick auf die Verhältnisse in dem skandinavischen Land. Zunächst
einmal ist die Zahl der Infizierten keinesfalls geringer, umgerechnet auf die
Bevölkerung ist sie längst höher. Hätte Schweden so viele Einwohner wie
Deutschland, gäbe es mehr als 240 000 bestätigte Fälle, mit einer hohen
Dunkelziffer. Noch beklemmender ist jedoch der Blick auf die Zahl der Toten, die
im Verhältnis - umgerechnet auf die Bevölkerung - fast viermal so hoch ist wie
in der Bundesrepublik. Unter diesen Toten sind Schätzungen zufolge 50 Prozent
Menschen aus Pflegeeinrichtungen und Altersheimen.
Dass es für die Schweden trotzdem nicht noch sehr viel schlimmer gekommen
ist, liegt vermutlich an der dünnen Besiedlung in dem Land, an der hohen Zahl
Alleinlebender in den wenigen großen Städten und möglicherweise auch an der
Selbstdisziplin der Bevölkerung. Ob man sich für den hohen Preis von vielen
Toten unter den Älteren am Ende eine Immunität der Überlebenden erkauft hat,
bleibt aber offen. Zwar gehen Fachleute davon aus, dass Genesene sich nicht
sofort wieder mit dem neuen Coronavirus anstecken können. Wie lange dieser
Schutz jedoch anhält, ist derzeit noch völlig unklar. Kathrin
Zinkant
Behauptung 10:
Die Menschen werden mit schlecht geprüften
Impfstoffen
Bislang arbeiten Forscher an mehr als 100 Impfstoff-Kandidaten. Etwa zehn von
ihnen werden an ersten Freiwilligen getestet. Es ist viel zu früh, etwas über
Wirksamkeit und etwaige Nebenwirkungen der Vakzine zu sagen. Richtig ist, dass
die Arbeit an Impfstoffen und Medikamenten gegen Covid-19 beschleunigt werden
soll. So versucht die Weltgesundheitsorganisation WHO den bürokratischen Aufwand
zu reduzieren, indem sie beispielsweise Studien entwirft, an denen sich Firmen
beteiligen können, ohne selbst alle Details der Testreihen planen zu müssen. Die
Europäische Arzneimittelagentur EMA kann unter Umständen schon mit dem
Zulassungsprozess beginnen, wenn die allerletzten Daten noch fehlen. Prinzipiell
könnte bei einer sehr schnellen Einführung die Gefahr bestehen, dass potenzielle
Nebenwirkungen andererseits eine gewisse Kontrolle bieten. Unwahrscheinlich ist
derzeit, dass es eine Impfpflicht geben wird. Eine obligatorische Immunisierung
gegen das Coronavirus ist bisher nicht beschlossen worden. Der vom
Gesundheitsministerium vorgelegte Gesetzentwurf sieht keine entsprechende
Regelung vor. Mehrere Bundespolitiker, darunter Kanzleramtschef Helge Braun,
haben eine Impfpflicht ausgeschlossen. Außerdem ist es recht wahrscheinlich,
dass sich genügend Menschen freiwillig impfen lassen. Um die so genannte
Herdenimmunität zu erreichen, genügt es im Falle von Covid-19, wenn etwa 70
Prozent der Menschen geimpft sind. Dann sind auch die anderen weitgehend mit
geschützt, weil sich der Erreger nicht mehr effektiv verbreiten kann. Geht man
von den Standardimpfungen bei Kindern aus, sollte diese Quote zu schaffen sein.
Gegen die meisten Krankheiten sind mindestens 90 Prozent der Kinder geimpft. Nur
etwa zwei Prozent der Eltern gelten als überzeugte Impfgegner. Berit
Uhlmann