In China gibt es seit Monaten nur noch wenige Corona-Neuinfektionen. Kann man von dem autokratischen Staat etwas für den Kampf gegen den Erreger lernen?
München/Peking - Es ist nicht schwierig herauszufinden, was China in der Corona-Krise alles richtig gemacht hat. Die chinesische Regierung bringt Journalisten die 125-seitige Antwort ungebeten vor die Tür, in einem Karton mit zehn Exemplaren ihres Weißbuchs über die eigene Corona-Politik. Doch auch unabhängig von der Propaganda, die der Welt die Überlegenheit des chinesischen autokratischen Systems weismachen soll, gibt es keinen Zweifel: China hat die Corona-Lage rund elf Monate nach Entdeckung des Virus in Wuhan größtenteils im Griff. Kinder gehen in die Schule, Kinos sind geöffnet, Restaurants und Clubs sind voll. Seit Monaten gibt es im Land, in dem ein Fünftel der Weltbevölkerung lebt, selten mehr als ein paar Dutzend Neuinfektionen am Tag. Kann man von China also etwas lernen?
Rein theoretisch vielleicht schon, in der Praxis liegen zwischen den demokratischen Gesellschaften und der Autokratie des chinesischen Staates Welten. Dazu genügt der Blick auf Chinas Kernstrategie, seine Lockdowns. Sie haben wenig mit den Kontaktbeschränkungen zu tun, wie man sie in Deutschland kennt. Seit der Abriegelung der 11-Millionen-Stadt Wuhan im Januar hat die Volksrepublik immer wieder Millionen Menschen für Wochen in ihre Wohnungen gesperrt.
Zwischen Januar und März befanden sich 780 Millionen Menschen in einem strengen Lockdown
Das Ziel des ersten Lockdowns in Wuhan und der 60-Millionen-Provinz Hubei war noch gewesen, die Virus-Ausbreitung in andere Regionen zu stoppen. Doch Ende Januar gab es in allen Provinzen Corona-Fälle mit Verbindung nach Wuhan. Peking ließ die Maßnahmen kurz darauf ausweiten. Jeder Bürger musste bleiben, wo er gerade war - und wenn er sich gerade auf Geschäftsreise oder im Urlaub befand. Zwischen Januar und März befanden sich schätzungsweise 780 Millionen Menschen in einem strengen Lockdown. Oft durften sie ihre Wohnungen nicht einmal für Spaziergänge verlassen. Das galt auch für Teile des Landes, die nur marginal vom Ausbruch betroffen waren.
Durch diesen landesweiten Lockdown sanken die Neuinfektionszahlen im Frühjahr auf wenige Dutzend am Tag. Erst als die Infektionszahlen pro Tag landesweit bei fast null lagen, öffneten die meisten Einkaufszentren, Restaurants und Kinos wieder, Schulen und Unis starteten zu einem großen Teil im Sommer wieder mit Präsenzunterricht. Und seither wird alles getan, um in der Nähe der Null zu bleiben. Parteichef Xi Jinping hat den Kampf gegen das Virus zur Toppriorität erklärt. Kommt es zu lokalen Ausbrüchen, drohen Verantwortlichen wie Bürgermeistern oder Leitern von Gesundheitsämtern politische Konsequenzen. Viele Behörden versuchen, durch besondere Strenge ihre Linientreue gegenüber Peking unter Beweis zu stellen.
Hinzu kommt die extrem restriktive Einreise- und Quarantänepolitik Chinas. Chinesische Staatsbürger dürfen zwar einreisen, der Grenzverkehr ist durch die geringe Anzahl von Flügen aber massiv eingeschränkt. Einreisende müssen 14 Tage in staatliche Quarantäne, Ausländern wird nur in Ausnahmefällen eine Einreise gestattet. Sie müssen größtenteils zusätzlich innerhalb von 48 Stunden vor dem Abflug einen negativen Corona-Test und einen negativen Antikörper-Test vorweisen. Sie werden nach der Ankunft in China erneut mehrmals getestet.
Auch Verdachtsfälle werden in zentralen Quarantänestationen untergebracht.
Verdachtsfälle und Infizierte isoliert China in zentralen Quarantäne-Stationen, bis das Virus nicht mehr nachgewiesen werden kann. Die zentrale Unterbringung ist eine Lehre aus Wuhan. Dort starben anfangs viele Menschen zu Hause. In China leben häufig drei oder vier Generationen zusammen, so dass die Gefahr besteht, dass Jüngere nicht nur ihre Eltern, sondern auch ihre Großeltern infizieren. Vor vielen Gebäudeeingängen gibt es Temperaturmessstationen. In Teilen Chinas sind sogar Erkältungsmedikamente nicht mehr frei verkäuflich. Damit soll verhindert werden, dass sich Menschen mit einer möglichen Infektion zu Hause "verstecken".
China hat gleichzeitig die Testkapazitäten soweit hochgefahren, dass es in der Lage ist, bei lokalen Ausbrüchen innerhalb von zwei Wochen Millionenstädte komplett durchzutesten. Möglich wird das durch ein sogenanntes Pooling: Man führt Teile von bis zu 30 Proben zusammen und testet nur die gemischte Probe. Fällt der Tests negativ aus, sind alle Mitglieder des Pools coronafrei. Ist er positiv, können die Einzelproben noch einmal nachgetestet werden.
Gerade in Bevölkerungen mit niedriger Inzidenz, also wenigen Fällen, ist so ein Screeningverfahren sinnvoll, um Testkapazitäten einzusparen und dennoch einzelne Fälle aufzuspüren. Allerdings wird auch die Sensitivität des Tests geringer, je mehr Proben gemeinsam untersucht werden, sprich: Es werden Infektionen übersehen. In Deutschland sind Pooltestungen bisher deshalb vornehmlich in Krankenhäusern üblich, um das Personal regelmäßig auf das Virus screenen zu können. China dagegen testet so praktisch seine ganze Bevölkerung.
Ist das verhältnismäßig? Das wird wie alle anderen Maßnahmen im Weißbuch nicht infrage gestellt. Entsprechend gehen die Behörden bei neuen Ausbrüchen stets nach dem gleichen Muster vor: Städte oder Stadtteile werden abgeriegelt, Verdachtsfälle und Infizierte zentral isoliert und die gesamte Bevölkerung getestet. Die 4-Millionen-Stadt Urumqi und die Umgebung in der Region Xinjiang musste im Juli für mehr als fünf Wochen in den Lockdown, nachdem eine Handvoll Neuinfektionen entdeckt wurden, inoffiziell verlängerten einige Regionen die Beschränkungen noch. Tianjin rief nach nur einem Fall den "Kriegsmodus" aus.
Ob diese radikale Orientierung hin zur "schwarzen Null" epidemiologisch Sinn ergibt, ist derweil umstritten, denn das neue Coronavirus tötet seltener als sein Vorgänger, Sars-CoV-1. Zirkuliert es auf sehr niedrigem Niveau in der Bevölkerung, lassen sich gefährdete Gruppen noch schützen, ohne gleich alles dichtzumachen. Dagegen verlangt die Null entsprechende Härte - oder einen extrem langen Atem, wie beispielsweise in Australien. Auch auf dem demokratisch regierten Kontinent sind die Infektionszahlen inzwischen fast bei Null. Dafür war allerdings ein viermonatiger, für westliche Verhältnisse auch nicht gerade weicher Lockdown nötig.
Fast jede Provinz hat ihre eigene Corona-App - alle greifen auf viele Daten der Handynutzer zu
So besonders rigoros die Lockdowns nun aber in China sind, einheitliche Corona-Maßnahmen gibt es ansonsten kaum. In dem zentralistisch organisierten Land hat sich vielmehr ein kafkaeskes System widersprüchlicher Anweisungen entwickelt. Besonders Reisende wissen selten, was sie in einer anderen Stadt oder Provinz erwartet; einige Städte stecken Auswärtige auch mal ohne Warnung für zwei Wochen in eine zentrale Quarantänestation. Manche halten an ihrem Unterkunftsverbot für Ausländer fest, in manchen Regionen braucht es einen aktuellen Corona-Test, um Zug zu fahren, in einigen müssen Menschen von außerhalb zuerst aus dem Flugzeug steigen, anderswo dürfen weiter keine Feiern veranstaltet werden, während in der nächsten Stadt Zehntausende auf ein Konzert gehen.
Fast jede Provinz hat zudem eine - oder sogar mehrere - eigene Corona-Apps. Wie nutzbringend die verpflichtenden, aber untereinander nicht vernetzen Apps wirklich sind, ist schwer zu sagen. Sie sollen der Kontaktverfolgung dienen und können auch Alarm schlagen, wenn Nutzer sich in einer Region aufgehalten haben, in der es zu einem Ausbruch gekommen ist. Dafür greifen sie aber auch auf zahlreiche Daten der Handynutzer zu, darunter Standort und Personalausweisdaten.
In der Praxis spielt die digitale Überwachung aber eine geringere Rolle als die soziale Kontrolle durch die - in China üblichen - Blockwarts in den Nachbarschaften. Sie sind vielfach dafür verantwortlich, wenn Menschen gewaltsam in ihre Wohnungen gesperrt werden. Sie überwachen die Einhaltung von Quarantänevorschriften und stellen auch eigene Regeln auf. Wer gegen Maßnahmen verstößt, wird bloßgestellt. Einige Aufseher ketteten Einwohner in Urumqi als Strafe an Laternenpfähle, die Regierung hat immer wieder auch zum Denunziantentum aufgerufen.
Und dennoch, die Maßnahmen gegen das Virus werden in China weitestgehend von der Bevölkerung unterstützt. Das hat, wie in anderen asiatischen Ländern auch, viel mit den früheren Erfahrungen zu tun: Die Bilder aus Wuhan riefen bei vielen Erinnerungen an die Jahre 2002 und 2003 wach, als das erste Sarsvirus in China grassierte. Die Bereitschaft, alles zu tun, um das Virus wieder in den Griff zu kriegen, war und ist deshalb groß. Viele Chinesen wünschten sich sogar noch strengere Maßnahmen. Die Abriegelung Wuhans sahen die meisten als notwendiges Opfer, um den Rest des Landes zu retten.
Bis heute käme zudem kaum jemand auf die Idee, die Maskenpflicht infrage zu stellen, Corona zu leugnen oder zu behaupten, die chinesische Regierung hätte ein Interesse daran, das Virus gefährlicher darzustellen, als es ist. Anfangs, auf dem Höhepunkt der Krise in Wuhan, wurde durchaus im Netz debattiert. Für Wut sorgte aber vor allem der Versuch der örtlichen Behörden, den Ausbruch in Wuhan zu vertuschen. Die Proteste waren so massiv, dass die Zensoren zunächst mit der Kontrolle überfordert waren. Inzwischen wird sämtliche Kritik wieder gelöscht, die Regierung lässt auch Falschnachrichten über das Virus entfernen.
Opfer der harten Maßnahmen haben kaum Möglichkeiten auf eine Entschädigung, Versuche, sich rechtlich gegen das Vorgehen der Behörden zu wehren, werden gewaltsam unterdrückt. Menschen, die zum Beispiel durch den Lockdown in ihrer Region lebensnotwendige Behandlungen in Krankenhäusern nicht antreten konnten, oder Arbeiter, die monatelang an Orten feststeckten, ihre Jobs oder Unternehmen verloren haben, sagen häufig, sie hätten eben Pech gehabt. Andere sagen aber auch, sie hätten noch Glück gehabt. Sie lebten noch - außerdem sei das Virus jetzt ja unter Kontrolle.
Der chinesischen Regierung hilft dabei, dass die Lage im Ausland so viel düsterer aussieht - besonders in den USA. Nach den Massenprotesten im Februar, als Millionen die Regierung für die anfängliche Vertuschung in Wuhan kritisierten, setzt Peking heute alles daran, vor allem den Sieg über das Virus zu betonen. Die Helden der Krise werden gefeiert, die Opfer spielen kaum eine Rolle. Viele Kritiker sind in den vergangenen Monaten verhaftet worden oder verschwunden. Auch Journalisten befinden sich darunter.