Von Philipp Bovermann, Süddeutsche vom 26. Oktober 2020
Wieder einmal ist eine digitale Plattform dabei, die
Art zu verändern, wie Menschen im Internet miteinander in Beziehung
treten. Zum ersten Mal handelt es sich dabei um das Produkt einer
Kultur, für die nicht der Einzelne und seine Freiheitsrechte das Maß der
Dinge sind. Dennoch - oder sogar gerade deshalb - könnte nun eine in
China entwickelte App einige der klassischen Ideen über digitale
Technologie wiederbeleben, die inzwischen so oft zu Grabe getragen
wurden. Die Rede ist von Tiktok.
Von
Facebook an waren soziale Medien als soziale Netzwerke angelegt. Die
ersten Facebook-Freunde sind richtige Freunde, auch auf Twitter bauen
sich die Nutzer aktiv ihren Kreis auf, von dem sie über den Zustand der
Welt informiert werden wollen. Der vieldiskutierte Filterblasen-Effekt
ist weniger ein technologischer, wie häufig behauptet, als vielmehr in
erster Linie ein sozialer: Was man sieht, hängt davon ab, bei wem man
das Häkchen gesetzt hat. Erst nach und nach begannen die Plattformen,
die Inhalte zu sortieren, die diese Kontakte veröffentlichen.
Unsichtbare Algorithmen entschieden zunehmend selbstbewusst, was
interessant für den jeweiligen Nutzer sein könnte und was nicht. Aber
der limitierende Faktor bleiben die Grenzen des eigenen Netzwerks, mit
dem sich inszenierenden Ich als Fixpunkt. Die Bühne gebührt
dem Individuum.
Tiktok hingegen ist, wie die New York Times
es treffend formuliert hat, "more machine than man". Anstatt Inhalte
innerhalb von Netzwerken zu verschieben, bauen die Sortier-Algorithmen
die Netzwerke um die Inhalte - eine, wenn man so will,
kopernikanische Wende in der digitalen Kommunikation. Zwar kann man noch
immer bestimmten Menschen folgen, das Herzstück aber ist die "For
You"-Seite. Dort kann theoretisch alles landen, was in Tiktok gerade
weltweit umläuft. Die Algorithmen zeigen neue Inhalte zunächst Nutzern,
die ähnliche Interessen haben. Wenn die hängen bleiben, vielleicht sogar
ein Like dalassen, wird der Kreis erweitert, immer wieder - bis es
möglicherweise Millionen Leute auf der ganzen Welt gesehen haben, auch
wenn der Nutzer, von dem es stammt, noch gar keine eigenen Follower hat,
keine Reichweite im klassischen Sinn. Ein bisschen so wie auf Youtube,
mit dem entscheidenden Unterschied, dass Youtube viel stärker eine
Videoplattform ist, Tiktok hingegen ein soziales Medium in Videoform.
Kein selbstgemachtes Internetfernsehen, sondern ein Debattenraum. Jeder
kann dort mit einer knalligen Idee durch die Decke gehen.
Unübersichtlichkeit ist der Preis. Man weiß nie, wer zum Akteur in der
Öffentlichkeit wird.
Jeder kann mit einer knalligen Idee durch die Decke gehen, Follower braucht man dazu keine
Zum Beispiel der hawaiianische Feuerwehrmann Michael David Clark. Tiktok hat er erst vor Kurzem entdeckt, aber sein zweites Video
hat gegenwärtig bereits mehr als 1,4 Millionen Likes. Clark kommentiert
darin den Clip einer anderen Nutzerin, die Verschwörungstheorien über
die Feuer in Kalifornien verbreitet. Für die angeblichen
Ungereimtheiten, die sie aufdeckt, gibt es einfache Erklärungen. Wer
sollte die besser kennen als ein Feuerwehrmann? Die reinen Fakten hätte
ebenso gut ein Experte mit klassischer Netzwerk-Reichweite liefern
können. Aber für diesen - und nur für diesen - Zusammenhang haben die
Algorithmen stattdessen Michael David Clark aus Hawaii hervorgezaubert
und sein Video rund um die Welt gejagt.
Auch auf
Tiktok kann man Leuten folgen, es gibt Influencer, aber die Zahl der
Follower ist nur noch ein Faktor im algorithmischen Auswahlprozess. Sie
stellt nicht mehr als absolute Größe dar, wie viele Menschen jemand mit
seinen Inhalten erreichen kann. Die aktuell gängigen sozialen
Plattformen haben das politische Kräfteverhältnis verschoben, weil sie
die über Institutionen und klassische Medien etablierten Reichweiten
aufbrachen und den Kuchen neu verteilten. Davon profitierten
marginalisierte Stimmen - leider auch die von Extremisten. Das Prinzip
von Tiktok beschneidet nun beide: die alten und die neuen, im Netz
entstandenen diskursiven Machtbasen. Es begünstigt laufend neue Stimmen,
ständig neue Akteure.
Man braucht lediglich die
Idee, und es hilft, wenn die Idee eine Melodie hat. Im Fall von Feroza
Aziz ist es die Melodie eines Kinderlieds. "If you're boycotting Mulan, clap your hands", singt die junge Aktivistin,
klatscht zweimal in die Hände, wiederholt die Zeile - und dann rattert
sie in einem einzigen Satz runter, dass Disney den Film in der
chinesischen Region Xinjiang gedreht hat, ohne sich daran zu stören,
dass dort Uiguren interniert und gefoltert werden, bevor sie nochmals
auffordert, in die Hände zu klatschen. In der Hoffnung, dass das
Geräusch irgendwann in den Chefetagen von Disney zu hören ist.
Vielleicht sogar in Xinjiang.
Bei Tiktok wird viel gesungen und getanzt. So ähnlich hat sich der
Philosoph Thomas Hobbes den Staat vorgestellt: als Ungetüm aus tausend
Leibern
Wer auf Tiktok gehört werden möchte, der
muss Memes erschaffen, also Internet-Trends, auf die sich andere
beziehen, die sie aufgreifen und variieren können. Vor dem Aufkommen der
Plattform waren das meistens lustige Bildchen und tendenziell war es
eher etwas für Nerds. Auf Tiktok sind die Nutzer selbst Teil des Memes -
sie performen es. Dass auf der Plattform so viel getanzt und gesungen
wird, ist nur der offensichtlichste Teil einer bestimmten Art von
Inhalten und einer dahinterliegenden Logik: Die online inszenierten
Körper der Nutzer sind lediglich als Teil umlaufender Ideenströme
relevant und politisch wirksam. Ein bisschen so, wie sich der Philosoph
Thomas Hobbes den Staat dachte - als einen Leviathan, ein Ungetüm aus
tausend Leibern. Diese Leviathane entstehen unsichtbar im Maschinenraum
der Plattform. Dadurch fließt diskursive Macht von den Individuen auf
sie ab.
Tiktok bemüht sich nach Kräften, diese
Macht herunterzuspielen. Es möchte als ein positiver, lustiger Ort
wahrgenommen werden, an dem Politik keine Rolle spielt. Was das hinter
der Plattform stehende Unternehmen Bytedance dafür unternimmt, kam durch
Leaks interner Dokumente ans Licht. Die Konzernzentrale in Peking hatte
die Weisung ausgegeben, die Reichweite von Videos herunterzuschrauben,
wenn darauf beispielsweise dicke, hässliche oder arme Menschen zu sehen
sind, wenn sie "die nationale Einheit" gefährden oder die Geschichte
eines Landes "verschandeln". Bytedance erklärte diese Anweisungen als
anfängliche Versuche, mit denen Mobbing verhindert werden sollte, heute
würden sie nicht mehr praktiziert. Im September allerdings erschien ein Bericht,
dem zufolge Hashtags mit Bezug auf queere Themen in verschiedenen
Sprachen - etwa Russisch und Arabisch - gelöscht worden seien. Man
konnte sich also nicht mehr die Videos anzeigen lassen, die diese
Hashtags verwenden. Das Unternehmen spricht gegenüber der SZ von einem
technischen Fehler.
Tiktok sorgt für Harmonie im
Netz, so wie in China Klimapolitik gemacht wird: per Verfügung von oben.
Die, positiv formuliert, sehr robuste "Content Moderation" auf der
Plattform verrät eine gänzlich andere Geisteshaltung als etwa die von
Facebook, wo man, mit Verweis auf die Meinungsfreiheit, lange Zeit
überhaupt keine Eingriffe machen wollte - ein paar Jahre später war die
Grenze des Sagbaren verschoben und das Netz zu einem Ort geworden, für
den gern die Modevokabel "toxisch" verwendet wird. Tiktok fühlt sich
anders an, lustig und frei, sogar die politischen Inhalte, die es
durchaus massenhaft gibt. Eine im Juli veröffentlichte Studie
kam zu dem Ergebnis, dass die Gesichter in Tiktok-Videos mit Bezug auf
die US-Wahl wesentlich häufiger die Emotionen "Glück" oder
"Überraschung" zeigten als "Ärger" oder "Traurigkeit".
Tiktok fühlt sich lustig und frei an. Vielleicht ist es schwierig, böse zu gucken, wenn man singt
Vielleicht
ist es schwierig, böse zu gucken, wenn man singt und "Reaction Videos"
postet, als Teil eines spontanen Ideenstroms, der durch das Netz fließt -
gemeinsam mit Gleichgesinnten, statt als einsam sich immer wieder
ablichtendes Ich auf der Bühne seiner persönlichen Echokammer, wo man
beklatscht, aber auch mit faulen Tomaten beworfen wird.
Tiktok
bietet - zu einem hohen Preis - Lösungen für das viel beklagte Problem
der Aggressivität im Netz. Die derzeit verbreiteten Social-Plattformen
gehen vom Individuum aus und stellen es einem Chor von Stimmen
gegenüber, der jede Äußerung mit einem kollektiven Echo beantwortet.
Deshalb kann der Einzelne nicht mehr nach Belieben jede Garstigkeit in
die Welt hinausblasen. Schon lange brüllt er gegen einen lauter
werdenden Chor von Andersdenkenden an und ruft "Cancel Culture", wenn
von diesen zurückschallt, was es nicht hören will. Für Nietzsche war das
die Geburt der Tragödie: der Moment, in dem der Chor den Einzelnen
überstimmt und sich das Individuum in der Musik auflöst, in einer
entfesselten Flut von Zeichen und Stimmen. Der Moment, in dem es zu
tanzen beginnt.