In den kommenden Tagens soll die Corona-Warn-App eine zusätzliche 
 Funktion bekommen. Mithilfe eines QR-Codes soll man sich künftig bei 
 Besuchen von Lokalen, Veranstaltungen oder Versammlungen an- und wieder 
 abmelden können. Die Frage wird sein, ob das die Debatte um die digitale
 Seuchenbekämpfung beruhigt.
 
     Ein roter Faden dieser Debatte ist, dass Deutschland und Europa 
 bei der Digitalisierung hinter dem Rest der Welt hinterherhinken. Da 
 rächen sich die Versäumnisse der letzten Jahre, die aus dem 
 amerikanischen Kontinent eine digitale Weltmacht, aus Asien eine 
 digitalisierte Gesellschaft und aus Europa das digitale Schlusslicht der
 Wohlstandregionen gemacht haben. In diese Debattenlage stoßen derzeit 
 ein paar digitale Start-ups in die Lücken. Die beiden prominentesten 
 Projekte sind der digitale Impfpass, den die Kölner Firma Ubirch 
 gemeinsam mit dem Konzern IBM entwickelt.
 
     Gleich fünf Blockchains sind die Basis für das komplexe 
 Verfahren, um die Kommunikation zwischen Arzt, Geimpften und Abfragenden
 zu organisieren. Blockchains sind - vereinfacht gesagt - 
 dezentralisierte Listen von Datensätzen, die ein digitales System 
 absichern, das beispielsweise eine virtuelle Währung wie Bitcoin oder 
 ein digitales Kunstwerk stützt, und dabei Fälschung oder Diebstahl 
 unmöglich machen.
 
     Die Luca App ist wiederum vor allem deswegen im Gespräch, weil sich Smudo von den Fantastischen Vier
 in Talkshows dafür starkmacht. Die Rapgruppe hat in das Projekt des 
 Berliner Start-ups Nexenio investiert, das Kontaktverfolgungen für 
 Veranstalter und Gastronomen digitalisieren soll, damit Gesundheitsämter
 im Infektionsfall alle Anwesenden informieren können. Mehrere 
 Bundesländer und Kommunen haben diese App schon angekauft.
	
		
Ideales Ziel für einen Hackerangriff
  Spricht man mit Wissenschaftlern, die sich mit solchen 
 Technologien auskennen, herrscht - höflich gesagt - kritische 
 Verwunderung. Tibor Jager von der Bergischen Universität Wuppertal, ein 
 angesehener Forscher auf dem Gebiet der Kryptografie, der digitalen 
 Verschlüsselungstechnologien, hat sich auch schon mit dem digitalen 
 Impfpass aus Köln beschäftigt. Da stimmt für ihn so einiges nicht. 
     
Blockchains seien zwar derzeit in aller Munde, aber für einen 
 Impfpass die genau falsche Technologie. "Blockchains sind sinnvoll, wenn
 es keine zentrale Instanz gibt, die Daten bestätigen kann, und wenn 
 jeder diese Daten öffentlich überprüfen können soll. Aber bei Impfpässen
 will man es ja genau umgekehrt. In diesem Fall benötigen wir sogar 
 zentrale Stellen, nämlich die impfenden Ärzte, welche durch digitale 
 Impfpässe bestätigen, dass eine Impfung durchgeführt wurde. Und das 
 Gesundheitslogbuch oder Impfbuch eines Nutzers soll ja gerade nicht für 
 jeden öffentlich sichtbar sein."
Da sei man beim Problem, dass ein privater Anbieter wie Ubirch, 
 der diese Daten verarbeite, zu einem "single point of failure", zum 
 anfälligen Nadelöhr werde. Man könne sich beispielsweise ein 
 Eröffnungsspiel der Bundesliga mit hunderttausend Zuschauern in einem 
 Stadion vorstellen. Das wäre ein ideales Ziel für einen Hackerangriff. 
 Entweder um die Veranstaltung auszubremsen. Oder um die Daten 
 abzugreifen. "Sehr viel einfacher wäre es, wenn man digitale Signaturen 
 als Impfbescheinigung verwenden würde. Zum Beispiel vom impfenden Arzt. 
 Da gäbe es keine Zentralisierung, keinen zentralen Punkt, der überlastet
 werden kann." Fazit: Blockchain ist die schlechteste Lösung. "Das ist, 
 als wenn sie Käse mit dem Käsehobel schneiden könnten, aber stattdessen 
 fünf Kettensägen nehmen." 
     
Aber es geht eben auch um Geld. "Blockchain ist ein Hype. Aber 
 mit Zertifikaten aus den Achtzigerjahren kann man kein Geld verdienen." 
 Denn die Technologie für digitale Unterschriften ist zwar zuverlässig, 
 aber sehr einfach. Und aus dem Jahr 1978. Seitdem sind sie so etwas wie 
 das robuste "kryptografische Rückgrat" der Kommunikation im Internet. Er
 sei da auch nicht alleine mit seiner Einschätzung. "Die Kollegen sind 
 alle fassungslos."
Auch Luca hat er sich angesehen. Auch da gebe es wieder das 
 Problem der singulären Fehlerquelle. Mal davon abgesehen, dass er die 
 App für unausgereift hält. "Da sind verschiedene 
 Verschlüsselungsverfahren zusammengetüftelt worden", sagt er "Das 
 Sicherheitskonzept ist für mich als Experten nicht nachvollziehbar. Und 
 es gibt Amateurfehler, wie dass die Telefonnummer des Nutzers auf dem 
 Gerät geprüft wird." 
     
Überhaupt, so sagt er, solle man auf keinen Fall eine 
 zentralisierte App wie Luca ins Spiel bringen, denn damit sei das 
 Grundprinzip des ja schon bestehenden Systems ausgehebelt. "Luca hebelt 
 das Prinzip des Privacy by Design aus", sagt Jager. Also den Grundsatz, 
 dass die Privatsphäre in der Technologie selbst garantiert wird, und 
 nicht erst bei der Anwendung als "privacy by default" eingerichtet wird.
 Die Corona-Warn-App des Bundes wurde nach der Richtlinie entwickelt, 
 dass die Privatsphäre in jedem Fall erhalten bleibt.
Am Anfang stand das Nachdenken über eine Infrastruktur 
     
Die Professorin für Informatik Carmela Troncoso von der EPFL, 
 der technischen Hochschule in Lausanne, stöhnt bei der Frage nach Luca: 
 "Das sind gerade die exakt gleichen Debatten, die wir vor einem Jahr 
 schon einmal geführt haben." Sie arbeitet mit einem Team, zu dem auch 
 Marcel Salathé, Professor für digitale Epidemiologie an der EPFL, 
 gehört. Gemeinsam haben sie ein Protokoll entwickelt, das unter dem 
 Kürzel DPT3 bekannt wurde. Das steht für "dezentrale, 
 datenschutzkonforme Näherungsermittlung" und ist die Grundlage für zum 
 Beispiel die deutsche Corona-Warn-App. "Wir haben damals nicht über eine
 App nachgedacht, sondern über eine Infrastruktur", sagt sie. Das sei 
 der entscheidende Unterschied im Ansatz.
Luca hat das Team auch untersucht, nachdem Nexenio den zuvor 
 geheimen Quellcode der App auf Drängen der Wissenschaftler und 
 Programmierer freigab. Prompt stießen sie und andere Teams auf eine 
 ganze Kaskade von Problemen, von der Registratur heikler Versammlungen 
 bis hin zu geklauten Open-Source-Codes. Aber es gibt einen ganz 
 grundsätzlichen Denkfehler. Apps sind klassisches Silicon-Valley-Denken,
 demnach gibt es für jedes Problem eine App. Und umgekehrt, wie im Fall 
 Luca-App, die viele Daten erhebt, die beispielsweise das RKI gar nicht 
 abgefragt hat.
Eine App schaffe aber eben auch eine Infrastruktur. Troncoso erinnert
 sich: "Wir haben für die Corona-App eine minimale Infrastruktur 
 geschaffen. Der Server hinter der App ist beispielsweise nur ein Kanal, 
 der ist nach dem Ende der Pandemie nutzlos." Die Daten, die durch ihn 
 strömten, sind auf den Telefonen der Nutzer geblieben.
Luca dagegen schaffe Verzeichnisse für jedes Treffen, das Nutzer
 damit registrieren. Für Konzerte, Abendessen, aber damit es wirklich 
 funktioniert auch für private Treffen, private Feiern, politische 
 Versammlungen, für Schutzräume wie Frauenhäuser. Das seien alle Daten, 
 die Epidemiologen gar nicht bräuchten. "Die brauchen keine Namen, die 
 müssen nur wissen, wo jemand infiziert oder nicht infiziert ist, um die 
 Ansteckungsketten zu brechen." 
     
Mit dem DPT3-Protokoll haben sie auch eine dezentrale App für 
 Kontaktverfolgung konstruiert, die in der Schweiz auch schon unter dem 
 Namen Crowdnotifier im Einsatz ist. Eine zentralisierte App wie Luca sei
 immer ein Problem. "Man könnte die für Wahlbehinderung einsetzen. Oder 
 für die Verfolgung von Minderheiten", warnt Carmela Troncoso. Und wenn 
 es eine Infrastruktur erst einmal gebe, sei es schwierig, die wieder 
 abzuschaffen.
"Wir haben gerade echt andere Probleme." 
     
Die Digitalisierung ist - und da sind sich Wissenschaftler, 
 Programmierer und Datenschützer gerade sehr einig - auch wirklich nicht 
 das Problem der Stunde. Tibor Jager sagt: "Ich habe Virologen 
 gesprochen, die sagen, wir haben gerade echt andere Probleme. Die 
 Diskussion um digitale Technologien lenkt nur von den eigentlichen 
 Themen ab." Vom Personalmangel der Gesundheitsämter, Kliniken und auch 
 des RKI. Von der Hilfe, die Unternehmer brauchen, um zu überleben. Die 
 Einführung neuer Systeme würde das überlastete Gesundheitswesen 
 zusätzlich überfordern Die Corona-Warn-App hat ja auch den Vorteil, dass
 es schon 26 Millionen Nutzer gibt, die sie zumindest heruntergeladen 
 haben.
Die Fixierung auf digitale Debatten habe bei der 
 Seuchenbekämpfung oft etwas von Aberglaube. Das erinnert an die Probleme
 in der Debatte um künstliche Intelligenz (KI). Der werden wahre 
 Wunderdinge zugetraut. Auch in der Seuchenbekämpfung. In Wahrheit ist KI
 eine hoffnungslos überschätzte Form von Automatisierung, die enorm 
 aufwendig ist. KI-Systeme müssen nicht nur installiert, das Personal 
 nicht nur damit geschult werden. 
     
Auch die KI selbst muss für eine so komplexe Aufgabe wie die 
 Kontaktverfolgung oder auch die Impfstoffverteilung bei mehreren 
 Millionen Zielpersonen erst einmal trainiert werden. Das kann Monate und
 länger dauern. In Deutschland und Europa noch länger, denn hier sind 
 die Datensätze qualitativ und quantitativ vergleichbaren Erhebungen in 
 den USA oder China weit unterlegen. Aber das sind auch andere 
 Gesellschaften mit anderen Werten.
Es gibt einen historischen Rahmen, der hilft, das Ausmaß der 
 digitalen Corona-Maßnahmen zu erfassen. Seuchen verändern Gesellschaften
 auf lange Sicht. Die Impfkampagnen gegen Pocken im frühen 19. 
 Jahrhundert waren der Beginn des modernen Gesundheitswesens. Die 
 Cholera-Epidemien des späten 19. Jahrhunderts waren in London und 
 Hamburg die Geburtsstunde des modernen Städtebaus, zu dem vor allem ein 
 hygienisches Kanalisationssystem gehörte. 
     
Die Ebola-Ausbrüche in Westafrika in den vergangenen 25 Jahren 
 brachten internationale Frühwarnsysteme und ein verschärftes Bewusstsein
 für die Gefahren einer Pandemie. Was Deutschland jetzt aufbaut, ist 
 eine digitale Infrastruktur, die der Gesellschaft sehr viel länger 
 bleiben wird als die Pandemie.