"Wir werden noch lange mit dem Virus leben müssen"


Der Virologe Hendrik Streeck hält den Shutdown für verfrüht und plädiert für weniger Angst im Umgang mit Sars-CoV-2. Ein Gespräch über den Schutz von Risikogruppen, "Querdenker" und Streit unter Kollegen.

Interview von Christina Berndt und Felix Hütten

Süddeutsche 30. Oktober 2020, 17:17 Uhr, Online und Papierausgabe >> LINK


Manche Corona-Leugner feiern ihn, Vorsichtige eher nicht: Oft wird der Bonner Virologe Hendrik Streeck, 43, als Gegenpol zum Corona-Experten Christian Drosten gehandelt. In dieser Woche erhärtete sich der Eindruck. Gemeinsam mit Kassenärzten und ärztlichen Berufsverbänden sprach sich Streeck gegen einen Shutdown aus. Das Papier wurde von zahlreichen Experten scharf kritisiert; manche Verbände distanzierten sich davon. Die großen Forschungsorganisationen forderten ein baldiges Herunterfahren des öffentlichen Lebens. Die SZ sprach mit Streeck über seine Rolle in der Pandemie und seine Vorschläge.
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SZ: Nun ist der Shutdown doch beschlossen worden. Sind Sie enttäuscht?

Hendrik Streeck: Ich halte den Shutdown für zu früh. Er bringt sicherlich die Infektionszahlen runter. Aber nach den vier Wochen werden sie wieder steigen, dann geht es von vorne los. Soll dann wieder ein Shutdown folgen? Man gibt den Menschen damit keine Perspektive. Das Virus geht ja nicht weg. Es ist absurd zu glauben, dass alles besser ist, wenn wir nur noch ein bisschen durchhalten. Aber eine Pandemie ist ein Marathon, wir werden noch lange mit dem Virus leben müssen. Und solches Stotterbremsen wird am Ende mehr schaden als nützen. Die Corona-Maßnahmen haben schließlich auch vielfältige negative Folgen - gesundheitlich wie wirtschaftlich.

Was ist denn die Alternative?

Ich würde mir wünschen, dass wir über eine Langzeitstrategie nachdenken. Ich fühle mich persönlich immer am hilflosesten, wenn ich keine Ahnung habe, was ich erreichen will und wie ich dahin komme. Das fehlt mir im Moment auch gesellschaftlich. Natürlich wollen wir Leben schützen. Aber wie? Aus meiner Sicht brauchen wir zuallererst einen besseren Schutz der Risikogruppen.

Geht es beim Shutdown nicht gerade um diesen Schutz? Ohne diese Bremse käme es doch zu mehr Todesfällen.

Es geht sicher jedem in dieser Diskussion darum, Todesfälle, schwere Verläufe und Langzeitfolgen zu verhindern. Aber nehmen wir an, der Impfstoff braucht noch zehn Jahre. Wie leben wir bis dahin? Es geht mir gar nicht um Fußball oder Feiern, aber um Kontakte und Bildung. Ziel muss es sein, solches Leben zu ermöglichen, ohne Todesfälle zu verursachen.

Heißt "Leben ermöglichen", Infektionen außerhalb der Risikogruppen zuzulassen?

Wir müssen uns auf nicht absehbare Zeit an die grundlegenden Regeln halten, Masken tragen, Abstand halten. Aber auch nicht jede Infektion um jeden Preis verhindern. Es ist weniger heftig, wenn sich Jugendliche infizieren, die dann milde Symptome bekommen, aber ihre Infektion eben nicht zu den Risikogruppen tragen.

Wie kann man die Risikogruppen denn besser schützen?

Man könnte an Altersheimen Schnelltestschleusen errichten, sodass Besucher und Personal dort nur nach einem negativen Test und mit FFP2-Maske Einlass erhalten. Aber Risikopatienten sitzen ja nicht nur im Altenheim. Man könnte auch der Rentnerin, die zu Hause lebt, Schnelltests und FFP2-Masken geben, damit sie ohne Gefahr Besuch von ihren Enkeln bekommen kann. Man könnte Nachbarschaftshilfen etwa für den Einkauf organisieren. Am Ende lässt sich nicht jeder Eintrag in eine Risikogruppe vollkommen vermeiden. Aber das gelingt momentan auch nicht. Die Gesundheitsämter jagen nur noch Infektionsketten hinterher, so kommen wir nicht vor das Infektionsgeschehen. Ich plädiere dafür, aktiv zu sein.

Ihr Vorschlag schützt nicht die Schwangere mit Schulkind und auch nicht den Asthmapatienten, der im Supermarkt an der Kasse arbeitet.  Begehen Sie da einen Denkfehler?

Der Denkfehler wird dort begangen, wo man versucht, das Infektionsgeschehen alleine über die Infektionszahlen zu kontrollieren, allein über das Durchbrechen von Kontaktketten. Momentan gelten Landkreise nur aufgrund der dortigen Infektionszahlen als rot oder dunkelrot. Das hat aber zur Folge, dass wir die Erkrankungswahrscheinlichkeit, die Eintragungen in Alten- und Pflegeheime oder in Risikogruppen gar nicht wahrnehmen.

Was schlagen Sie stattdessen vor?

Ein Ampelsystem, in das mehrere Faktoren einfließen. Darin könnte man neben den Infektionszahlen auch den Anteil der positiven Tests, die Belegung von Klinikbetten und von Intensivbetten abbilden. Von der Farbe der Ampel sollten dann die Maßnahmen in dem jeweiligen Bezirk abhängen. Dann wäre es auch erlaubt, in manchen Regionen etwas mehr Infektionen zuzulassen, ohne gleich Alarm schlagen zu müssen. In Berchtesgaden zum Beispiel habe ich nicht gehört, dass die Intensivmedizin ins Chaos kam, obwohl es dort so viele Neuinfektionen gab.

Die Intensivzahlen folgen  den Infektionszahlen. Sehen Sie das Ampelsystem tatsächlich jetzt noch als eine Option?

Ich fordere das schon seit dem Sommer. Wir hatten im Frühjahr bis zu 3000 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, bei rund 5000 Neuinfektionen täglich. Heute haben wir fast 19 000 Neuinfektionen, aber nur etwa 1800 Intensivpatienten. Diese Diskrepanz wird aber kaum dargestellt und dementsprechend nur bedingt wahrgenommen.

Machen Sie sich angesichts der vielen Neuinfektionen wirklich keine Sorgen?

Sorgen sollten nicht das sein, womit ein Arzt auf solche Zahlen reagiert. Dass sie steigen, wurde schon vor Monaten prognostiziert. Es überrascht mich eher, wie rasant der Anstieg im Moment passiert.

Wie erklären Sie sich den  Anstieg?

Ich glaube nicht, dass die Bevölkerung unvernünftig geworden ist. Nach meiner Wahrnehmung verhält sich der Großteil der Menschen vorbildlich. Ich denke eher, dass die Saisonalität eine große Rolle spielt, ähnlich wie bei anderen Coronaviren. Und wir haben vielleicht bislang unterschätzt, was privates Zusammenkommen zum Geschehen beiträgt.

Haben Sie persönlich denn Angst, sich anzustecken und schwer zu erkranken?

Ich habe selbst keine große Angst, schwer zu erkranken. Aber als ich zum ersten Mal aus Heinsberg zurückkam, dachte ich, Mist, ich habe mich bestimmt infiziert. Trotz FFP3-Maske. Wir waren in manchen Haushalten eine Stunde lang mit Infizierten zusammen. Es war dann aber doch nichts passiert, da war ich schon froh. Allerdings haben sich zwei ältere Verwandte von mir infiziert, da hatte ich enorme Sorgen.

Heinsberg ist jener Ort in Nordrhein-Westfalen, der nach einer Karnevalsfeier zum deutschen Corona-Hotspot wurde. Sie haben dort eine Studie durchgeführt. Weshalb sind Sie ohne umfangreiche Schutzausrüstung dorthin gefahren? Haben Sie das Virus unterschätzt?

Wir haben uns gegen Schutzanzüge und Faceshields entschieden, aber natürlich haben wir Masken und Handschuhe getragen. Ich fand es unangemessen, den Leuten so unmenschlich zu begegnen. Aus heutiger Sicht würde ich es aber anders machen, da man heute diese Bilder schon kennt.

Die Studie in Heinsberg wurde für Sie zum Desaster, Ihnen wurde wegen der Kooperation mit der PR-Agentur Storymachine und einer Nähe zur NRW-Landesregierung vorgeworfen, nicht unabhängig zu arbeiten. Können Sie die Kritik heute nachvollziehen?

Rückblickend war die Zusammenarbeit mit Storymachine für mich ein Fehler. Ich habe es einfach nicht besser gewusst. Ich habe lange in den USA gelebt, dort ist der Umgang mit Social Media und Presse anders. Ich habe auch die Aufgeregtheit um den Namen Kai Diekmann, einem der Gründer der Agentur, nicht gekannt.

Es ging ja nicht nur um den Ex-"Bild"-Chefredakteur Diekmann, sondern auch um die Nähe von Storymachine zur Wirtschaft. Immerhin sollte Ihre Studie Antworten auf die große Frage liefern, ob Lockerungen möglich sind. Hätte es Ihnen  nicht klar sein müssen, dass man mit solchen Interessenkonflikten ganz vorsichtig sein muss? 

Es gab von meiner Seite aus keinen Interessenkonflikt. Unsere Studie ist nach wissenschaftlichen Prinzipien und ergebnisoffen gelaufen. Ich hatte somit selbst keinen direkten Zugang zu den Daten, sie sind alle beim Biometriker unter Verschluss. Und natürlich hatte ich zuvor den Ärztlichen Direktor und die Pressestelle der Universität informiert. Den Gründer von Storymachine, Michael Mronz, kenne ich schon ein paar Jahre. Ich hatte ihm gesagt, wie schwer es ist, die vielen Presseanfragen zu bewältigen, und dass ich damit keine Erfahrung habe. Er bot mir seine Hilfe an, das fand ich gut. So konnten uns viele Menschen bei unserer Studie quasi über die Schulter schauen.

Sie sagten vorhin, die Kooperation sei ein Fehler gewesen. Jetzt erklären Sie ausführlich, dass sie eigentlich okay war. 

Mir war nicht klar, was es für Reaktionen auslöst. Und das hat von der Studie abgelenkt. Ich wollte, dass die Forschung spricht, dass die Ergebnisse sprechen.

Sie haben ja eine Reihe von solchen Erlebnissen gehabt, wo Sie sich falsch verstanden fühlten oder Shitstorms erlebt haben. Sie gehen trotzdem weiterhin an die Öffentlichkeit. Warum?

Ich habe häufig darüber nachgedacht, mich zurückzuziehen. Ich finde meinen Beitrag in der Debatte aber wichtig, dafür gehe ich das Risiko eines Shitstorms wieder ein. Momentan gibt es auf der einen Seite dieses Bagatellisieren und auf der anderen Seite einen sehr alarmistischen Ton. Ich stehe dazwischen.

Dem "Spiegel" sagten Sie, dass Sie sich von der Öffentlichkeit im Vergleich zum Charité-Virologen Christian Drosten ungerecht behandelt fühlen. Inwiefern?

Es ist schon so, dass ein anderes Maß angelegt wurde. Christian Drosten ist mit Politikern in der Bundespressekonferenz aufgetreten, das hat keine Kritik auf sich gezogen. Und in vielen Medien hieß es lange "die umstrittene Heinsberg-Studie". Warum umstritten? An der Studie selbst ist nichts umstritten. Das ist vielleicht die Verpackung, die da nicht gestimmt hat.

Auch Christian Drosten sagte in der SZ, die Vorgänge um Ihre Studie hätten nicht der guten wissenschaftlichen Praxis entsprochen.

Ich habe ihn angerufen, weil ich es ärgerlich fand, was er da gesagt hat. Die Studie wird übrigens in Kürze in einem angesehenen Fachjournal publiziert - und es gab keine Beanstandungen von den Prüfern, alle Kernthesen sind so geblieben.

Später in einer Talkshow hat sich Drosten dann positiv über Ihre Arbeit geäußert. Haben Sie inzwischen wieder Kontakt? 

Nein.

Hätten Sie gerne Kontakt mit ihm?

Ich finde es wichtig, dass sich alle Virologen und auch Vertreter anderer Fachbereiche zusammenfinden und miteinander sprechen. Keiner hat ja die Wahrheit gepachtet, daher fände ich es richtig, wenn wir gemeinsam diskutieren würden.

Ausgerechnet Ihre Zitate werden allerdings häufig von "Querdenkern" benutzt. Wie erklären Sie sich das?

Wenn man mich da zitiert, hat man mich mehr oder weniger absichtlich falsch verstanden. Oder man verwendet ein Zitat aus dem Frühjahr, als ich auch mal falschlag. Das Problem ist: Meine Gratwanderung zwischen den extremen Meinungen wird in beide Richtungen gerne falsch verstanden. Manchmal heißt es dann: Auch Streeck sagt, es ist nicht so schlimm. Oder: Sogar Streeck sagt, es ist ganz schlimm. Die Menschen mögen es schwarz-weiß, mit meinem Grauton haben sie Schwierigkeiten. Und als ich einmal Thesen von Corona-Leugnern öffentlich widerlegt habe, habe ich Morddrohungen bekommen.

Wo genau lagen Sie schon einmal falsch?

Zu Beginn der Pandemie habe ich wie viele andere Fachleute auch den Nutzen der Masken nicht gesehen. Als Virologe war für mich klar, dass man FFP2- oder FFP3-Masken tragen muss, um Viren fernzuhalten. Dass Alltagsmasken bei Sars-CoV-2 etwas bringen, hat erst die weitere Forschung gezeigt. Und im Januar hatte ich mal gepostet, das Virus sei nicht so gefährlich wie die saisonale Grippe - viele Kollegen sahen das damals ähnlich. Da habe ich mich klar getäuscht. Aber ich stehe dazu, ich habe den Tweet auch nicht gelöscht.

           

                                                                                                           

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