Hauptsache Lockdown

Andere Länder, andere Maßnahmen - dennoch zeigt der Blick ins Ausland, dass der Bruch mit der Normalität die wohl effektivste Waffe im Kampf gegen die Pandemie ist.

Kathrin Zinkant, Süddeutsche vom 28. Oktober 2020, LINK

Den Blick über den eigenen Tellerrand zu werfen, schadet selten im Leben, in der Corona-Pandemie wirft dieser Blick allerdings oft eine von zwei konkreten Fragen auf. Die erste lautete bisher, warum die Infektionszahlen in anderen Ländern so plötzlich explodieren. Mittlerweile ist Deutschland allerdings selbst in einer solchen Lage und der Blick in die Ferne führt zu dem zweiten Rätsel: Wie haben die nur so schnell ihre zweite Welle in den Griff bekommen?

      

Die Länder, auf die man vom Herzen Europas jetzt neidvoll guckt, heißen Australien, Japan - und tatsächlich Israel. In dem kleinen Land, das kaum mehr Einwohner hat als New York City, begann die zweite Welle bereits im Juni. Nach einer vorübergehenden leichten Beruhigung des Infektionsgeschehens eskalierte die Situation dann Anfang September komplett. Vor vier Wochen verzeichnete das Land schließlich globale Rekorde mit rund 720 Neuinfektionen pro Tag und pro Million Menschen - selbst die Bundesrepublik liegt trotz rasanter Ausbreitung des Virus derzeit noch weit darunter, bei knapp 130 Infektionen pro Tag und Million Einwohner. Doch Israel gelang es, die Pandemie innerhalb kürzester Zeit zurückzudrängen. Seit drei Tagen verzeichnet es im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße nun deutlich weniger Infektionen als Deutschland.

In Israel wartete man lange mit harten Maßnahmen, in Australien wurde sehr früh durchgegriffen      

Israel hat also das scheinbar Unmögliche geschafft - es hat die zweite Welle binnen Wochen gezähmt. Und obwohl das Land im Nahen Osten wohl das beeindruckendste Beispiel einer solchen Zähmung bietet, ist es mit seinem Erfolg keinesfalls allein. So sah auch Australien bereits Mitte Juni, dass die Zahlen wieder stiegen. Sie kletterten zwar nie in derart schwindelerregende Höhen wie in Israel, dennoch war die Zunahme spürbar - und sie wurde auch auf dem fünften Kontinent wieder gut eingefangen. Derzeit verzeichnet Australien weniger als eine tägliche Neuinfektion je Million Einwohner. Und auch Singapur und weitere Länder haben es geschafft, dem Virus Einhalt zu gebieten. Die Frage lautet, wie? Gibt es den einen entscheidenden Trick?

      

Es ist schon früher in der Pandemie klar geworden, dass es die eine Zauberformel zur Eindämmung des Erregers vermutlich nicht gibt - oder, anders gesagt: Jedes Land muss seine eigene Zauberformel finden. Zu unterschiedlich sind die Kulturen und Mentalitäten, aber auch Erfahrungen mit größeren Ausbrüchen neuer Viren im eigenen oder benachbarten Land, als dass alles überall gleich gut funktionieren würde. So schreibt der Systembiologe Eran Segal vom Weizmann-Institut im israelischen Rehovot auf Twitter, dass die verfrühten Schulöffnungen die Pandemie im Land wieder aufflammen ließen. Es seien wiederum Schulschließungen gewesen, die während der zweiten Welle die Infektionen eingedämmt hätten. In anderen Ländern haben Schulen nach bisherigem Kenntnisstand dagegen nur einen geringen Einfluss auf die Pandemie gehabt.

      

Segal nennt zudem Masken als Grund für den Rückgang, sie sind erst seit Kurzem Teil der staatlich verfügten Maßnahmen in Israel, zuvor wurden sie auch wegen der warmen Temperaturen oft nicht konsequent getragen. In Singapur wiederum waren Masken seit Sars-CoV-1 und Mers üblich, schon vor dem neuen Ausbruch gehörten sie zum Alltag - so, wie in anderen asiatischen Ländern auch. Allerdings sind Masken selbst in Europa inzwischen ein Teil des normalen Lebens. Sie allein können also auch nicht ausschlaggebend sein.

      

Gibt es also keinen gemeinsamen Nenner? Der amerikanische Mediziner Eric Topol vom Scripps-Forschungsinstitut in La Jolla, Kalifornien, hat die Erfolge im Kampf gegen die zweite Welle seinerseits auf Twitter als Mobilisierung beschrieben - als eine konzertierte Anstrengung, um das Virus aufzuhalten. In manchen Ländern kam diese Anstrengung in Form eines neuen, strikten Lockdowns eher spät - so etwa in Israel, wo erst wieder dichtgemacht wurde, als die Krankenhäuser durch die zweite Welle Mitte September bereits überlastet waren. Die Zahl der Corona-Todesfälle war da schon um ein Zigfaches gestiegen.

      

Australien dagegen griff früh und besonders hart durch. Bereits im Juli wurde das öffentliche Leben rigoros eingeschränkt, in einigen Städten wurden wegen einiger Cluster sogar Wohnkomplexe komplett abgeriegelt, die Leute durften nicht einmal zum Einkaufen raus. Bars, Restaurants, Läden und Kultureinrichtungen blieben lange geschlossen, Partys und Hochzeitsfeiern waren nicht erlaubt. Tatsächlich beendet das stark betroffene Melbourne seinen strengen Lockdown erst an diesem Mittwoch, nachdem trotz rigoroser Testungen keine neuen Infektionen mehr gefunden wurden. Dennoch bleibt es bei Maßnahmen, die noch deutlich härter sind als die Einschränkungen, die in Deutschland derzeit diskutiert, verhandelt und zögerlich eingeführt werden.

      

Und vielleicht ist eben doch das der gemeinsame Nenner: Eine umfangreiche und konsequente Pause von allem - vom Ausgehen, Shoppen, Feiern und Reisen. Mit anderen Worten: Ein Lockdown kann die zweite Welle stoppen. Er muss keine dreieinhalb Monate dauern, darin sind sich die Fachleute einig. Aber eine klare Unterbrechung der Normalität kann Normalität nachweislich wieder ermöglichen. Hauptsache, man wartet damit nicht zu lange.