Die vielen Polizisten stehen etwas verloren vor dem bunten Volk, das sich am Ufer des Bodensees versammelt hat: Wir sehen strickende Frauen und Eltern mit Kindern auf Picknickdecken; junge Männer, die eher nach Surfschule als nach Reichsbürgernachwuchs aussehen, geben Getränke gegen einen frei wählbaren Soli-Beitrag aus. Zwei Männer Mitte fünfzig in karierten Hemden fotografieren sich gegenseitig mit der Bühne im Hintergrund: Festhalten, dass man dabei war.
Wir sind wissenschaftliche Mitarbeiter und Studierende am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Konstanz. Am vergangenen Wochenende haben wir uns unter die große Kundgebung der "Querdenken"-Bewegung gemischt, die am Bodensee im Anschluss an eine "Friedenskette" stattfand, und Gespräche geführt.
Unsere Erwartungen waren stark durch die Bilder aus Berlin geprägt, wo Ende August für einen Moment Reichsflaggen vor dem Reichstag wehten und sich Rechtsextreme kurz vor der Machtergreifung wähnten. Nach "QAnon"-Verschwörungstheoretikern, Reichsbürgern oder Identitären muss man hier in Konstanz nun länger suchen, auch weil die Stadtverwaltung Reichsfahnen und entsprechende Symbole auf der Demonstration untersagt hat - die Gruppen sind aber auch hier zu finden und neben Siebenten-Tags-Adventisten, Geistheilern, Patschuliduft und speziellen Querulanten mit ihren Flyern und Magazinen gleichberechtigt geduldet.
Dass man vorwiegend Rechtsextreme mit der
"Querdenken"-Bewegung verbinde, sei der eigentliche Skandal, so sieht es
der Großteil der am Seeufer Versammelten: Viele beschreiben die
Teilnahme an der Demonstration in Berlin und vor allem die folgende
Berichterstattung mit ihrem vermeintlich ausschließlichen Fokus auf die
Rechten als Schlüsselerlebnis, das sie in ihrem tief sitzenden
Misstrauen gegen die "Mainstream-Medien" bestärkt habe. Misstrauen
gegenüber Medien und Politik ist, neben der Ablehnung der
Pandemiemaßnahmen ("überzogen", "Panikmache", "verfassungswidrig"), ein
einigendes Element der sonst sehr diversen Truppe.
Warum
interessieren wir uns wissenschaftlich für die Proteste vor unserer
Haustür? Weil die "Querdenker" exemplarisch für eine relativ moderne
Entwicklung in der Geschichte der sozialen Bewegungen sind: Zentral sind
Bemühungen, einen neuen, gegen die etablierte Wissenschaft und
Pandemiepolitik gerichteten Typ Wissen in die Öffentlichkeit zu bringen.
Die Demonstranten als "Covidioten" abzutun, stärkt dabei nur deren
Selbstwahrnehmung als Kämpfer für eine unterdrückte Wahrheit - das Ziel
unserer Forschungsgruppe aus Geschichte, Soziologie, Politik- und
Medienwissenschaft ist es hingegen, besser zu verstehen, warum
Youtube-Videos in diesen Kreisen eher Glauben finden als anerkannte
wissenschaftliche Autoritäten und Medien.
Groß ist hier die Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Normalität
Ergänzend zu einer Auswertung von
Internetkommunikation, statistischen Erhebungen in Umfragen und
ethnografischen Beobachtungen haben wir daher ausführliche Interviews
auf der Konstanzer Demonstration geführt. All dieses Material wollen wir
in den nächsten Monaten genauer analysieren. Unsere ersten Eindrücke
von den Gesprächen und Diskussionen zeigen jedoch schon, dass es zu kurz
greifen würde, ausschließlich mangelnde Medienkompetenz und autoritäre
Charakterzüge für den grassierenden Vertrauensverlust verantwortlich
zu machen.
Trotz wissenschaftskritischer
Grundstimmung wird unser kleines Team überwiegend freundlich empfangen,
und die Auskunftsfreudigkeit ist groß: Gehört zu werden, ausführlich in
ein Aufnahmegerät sprechen zu können, das wirkt auf viele schon als
vertrauensbildende Maßnahme. Eine bunt gekleidete Naturpädagogin ist
noch ganz beseelt vom Singen des Friedensmantras; für Frieden und Liebe
sei sie nach Konstanz gekommen. Andere wollen der Angst in der
Gesellschaft entgegenwirken, wieder andere schlichtweg wieder frei
reisen. Tatsächlich ist es schwer, sich von manchen Geschichten der
Teilnehmer nicht berühren zu lassen: ein junger Handwerker, der wegen
der Schließung der Grenze zwischen Konstanz und der Schweizer
Nachbarstadt Kreuzlingen wochenlang seinen Sohn nicht gesehen hat; eine
Frau, deren Mutter im Pflegeheim Demenz entwickelte und ihre einzige
Tochter nicht erkannte, als sie das erste Mal im virensicheren Overall
zu Besuch kam.
Wir
stoßen in Konstanz auf einige legitime Kritikpunkte und halb verstandene
Christian-Drosten-Podcasts; eine Neigung zur Esoterik bei Einzelnen
("Auf welcher Seite steht ihr? Auf der spirituellen oder der rationalen -
mit der rationalen rede ich nicht!"), auf Unverständnis gegenüber der
Uneinigkeit der Virologen und der angeblich falschen Auswahl der
zentralen Experten in den Medien sowie Forderungen nach Eindeutigkeit
und Klarheit der Wissenschaft bei fast allen.
Aus
dieser Ablehnung von Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten schälen sich
jedoch tiefergehende Erweckungsgeschichten heraus: Die
Versicherungskauffrau, die eben noch über ihre demente Mutter sprach,
wispert von Eliten, die hinter dem Lügengebäude, das sie vor Kurzem noch
ihr Leben nannte, die Versklavung der Welt planten. Ein Familienvater
und CDU-Mitglied ließ "sein altes Weltbild in Ruinen zurück". Wir
Interviewer werden darüber aufgeklärt, dass die Wirkungslosigkeit von
Masken längst bewiesen sei, gar Kinder aufgrund der Mund-Nasen-Bedeckung
an "Schimmel in den Lungen" sterben könnten, kritische Ärzte mundtot
gemacht würden und ein neues "Ermächtigungsgesetz" längst geplant sei.
Manchen gilt die Corona-Krise nur als Auswuchs eines korrupten Regimes
aus Politik, Wirtschaft und Medien.
Mit Taschenrechner und Youtube: Man spürt so etwas wie eine Freude am Gegenwissen
Das Bauchgefühl, dass etwas mit den Infektionszahlen
und Pandemie-Maßnahmen "faul sei", ist dabei für viele der Ausgangspunkt
in eine neue (überwiegend digitale) Welt des selbstgemachten,
"kritischen" Wissens. Wiederholt hören wir von Aha-Erlebnissen im
eigenständigen, "kritischen" Denken, etwa beim Lesen eines
"Nicht-Mainstream-Blogs". Der kleinteiligen Ausdifferenzierung der
modernen Wissenschaften setzen viele "Querdenker" Intuition und
Schulmathematik entgegen. Manch einer auf der Bodenseewiese braucht nur
Bleistift, Taschenrechner und Youtube, um nachzuweisen, dass die
Mehrheit der Mediziner, Epidemiologen und Virologen sich schlicht
verrechnet habe.
Wenn
uns, den Interviewern von der Universität, auf Mobiltelefonen akribisch
nachgerechnete RKI-Zahlen vorgezeigt, Artikel in Telegram-Gruppen und
mathematische Formeln präsentiert sowie obskure Video-Experten empfohlen
werden, dann merkt man, wie falsch ein Aburteilen dieser Menschen als
passive Konsumenten von Verschwörungsmythen wäre. Vielmehr überwiegt
eine selbstermächtigende Freude am Gegenwissen, an der Rolle des
eigentlichen Experten. In ihrer Eigeninitiative, so drängt es sich uns
in Konstanz assoziativ auf, gleichen sie eher Heimwerkern: Wie der
Heimwerker sich mit eigenständig besorgten Materialien, selbsterlerntem
Know-how mittels Anleitungen aus dem Internet oder Hilfe von Freunden
sein Gartenhäuschen baut, setzen sich die "Querdenker" im Austausch mit
Gleichgesinnten ihre alternativen Wissens- und
Wirklichkeitskonstrukte zusammen.
Entsprechend groß
ist der Stolz und das Selbstbewusstsein, mit dem diese Menschen ihre
Ergebnisse dann dem Gegenüber präsentieren: Auch das selbstgebaute
Gartenhäuschen ist schließlich immer viel schöner als das fertige aus
dem Baumarkt. Die Eigeninitiative, Ausdauer und Frustrationstoleranz der
virologischen Heimwerker ist dabei durchaus beeindruckend - und gibt
vielleicht sogar Anlass zu ein wenig Hoffnung.
Denn
viele dieser Wissensmanufakteure sind keine hartgesottenen
Verschwörungstheoretiker. Sie sind eher von der Komplexität, der
Wandelbarkeit und Mehrdeutigkeit der akademischen Wissenschaft
verunsichert. Sie klammern sich an die Hoffnung, dass gesunder
Menschenverstand und Intuition der akademischen Epistemologie überlegen
seien. Dabei sind sie vom nachvollziehbaren Wunsch getrieben, die alte
Normalität wiederherzustellen. Sie jetzt mit Fachbegriffen und
Nazi-Vorwürfen von oben herab widerlegen zu wollen, würde den Großteil
der "Querdenker" jedoch tatsächlich zu jenen Verschwörungstheoretikern
machen, als die sie jetzt schon gesehen werden. Es muss sich nun zeigen,
ob noch mehr kluge Informationspolitik vonseiten der Regierung und
Wissenschaft helfen kann, um den Großteil dieser Menschen ohne
subjektiven Gesichtsverlust auf den Boden der Tatsachen zurückkommen
zu lassen.