Die Länder gehen verschiedene Wege bei der Öffnung von Schulen und Kitas.
Sachsen geht voran - was nicht alle begeistert. SZ; Samstag, 23. Mai 2020,
München - Es ist ein großes Experiment, das in Sachsen in dieser Woche
gestartet ist: Seit Montag haben Grundschulen und Kitas wieder geöffnet, und
zwar für alle Kinder, jeden Tag, ohne Abstandsregeln. Im Rest der Republik ist
man sich dagegen bislang einig, dass man vorsichtiger sein muss. In
Niedersachsen etwa bekommen nur Schüler Präsenzunterricht, die in diesem oder im
nächsten Sommer einen Abschluss machen oder auf eine weiterführende Schule
wechseln. In Bayern kommen Erst-, Fünft- und teilweise Sechstklässler dazu, und
auch das nur in kleineren Gruppen und im tage- oder wochenweisen Wechsel mit
anderen Schülern. Der Kitabesuch ist hier von Montag an für Vorschulkinder
möglich, nur in Ausnahmefällen auch für andere. So oder so ähnlich - Stichwort:
Bildungsföderalismus - ist es in den meisten Bundesländern geregelt. Umso
interessierter dürften viele Landesregierungen nun nach Sachsen schauen: Wie
läuft es beim Vorreiter unter den Schul- und Kita-Öffnern? Um das zu bewerten,
sagt eine Sprecherin des Dresdner Kultusministeriums am Freitagmittag, sei es
noch "entschieden zu früh". Schließlich gingen die Kinder ja erst dreieinhalb
Tage wieder in Schulen und Kitas. Man sei "vorsichtig optimistisch", dass der
eingeschlagene Weg der richtige sei: Obwohl der Schulbesuch - nach einer
Gerichtsentscheidung - vorerst freiwillig ist, seien 95 Prozent der Grundschüler
in die Klassenräume zurückgekehrt, das Feedback sei gut. Dass etwa in einer
Dresdner Kita und in einer Oberschule im Landkreis Nordsachsen jüngst je ein
Kind positiv getestet wurde, macht den Verantwortlichen keine allzu großen
Sorgen. Die Infektionen seien vor der Öffnung passiert. "Wir müssen abwarten,
wie es weiter läuft", sagt die Sprecherin des Kultusministeriums. Vom Abwarten
scheint Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) jedoch nicht allzu viel zu
halten. Dem Focus sagte er: "Wir wollen, dass nach den Sommerferien der
Unterricht auch an allen weiterführenden Schulen wieder normal läuft."
Ursula-Marlen Kruse sagt am Telefon, sie sei "geschockt" gewesen, als sie das
am Freitagmorgen gelesen habe. Kruse ist Landesvorsitzende der Gewerkschaft
Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Sachsen. Schon vom jüngsten Öffnungsschritt
für Grundschulen und Kitas war sie, gelinde gesagt, nicht angetan. Und ihre
Befürchtungen haben sich bewahrheitet: "Man will passend machen, was nicht
passt", sagt Kruse. Die einzige Sicherung im System - feste Gruppen mit festen
Betreuern - gehe wegen des chronischen Lehrermangels nicht auf. "Viele Kollegen
wechseln als Springer zwischen Klassen", sagt sie. Auch seien Lehrer und
Erzieher aus der Risikogruppe im Dienst, weil die Arbeit sonst nicht zu stemmen
wäre. Außerdem kämen die Kinder im Bus zur Schule oder im Hort mit anderen
zusammen, die nicht in der gleichen Klasse sind. "Es ist ja nachvollziehbar,
dass man zur Normalität zurückkehren will", sagt Kruse. "Aber ich habe den
Eindruck, hier ist der Wunsch Vater des Gedankens, nicht die Vernunft."
Dabei basiert der sächsische Sonderweg gerade auf der Annahme, dass die
Gefahr gar nicht sonderlich groß ist. Man geht davon aus, dass Kinder das Virus
kaum verbreiten. Die Staatsregierung beruft sich dabei auf die Einschätzungen
des Dresdner Infektiologen Reinhard Berner. Doch die sind umstritten. In
Baden-Württemberg etwa ist man vorsichtiger. Die vier Unikliniken des Landes
untersuchen im Auftrag der Landesregierung noch, welche Rolle Kinder bei der
Verbreitung von Sars-CoV-2 spielen. Zwar haben die Wissenschaftler
Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) vergangene Woche vertraulich
erste Ergebnisse mitgeteilt. Doch es soll nichts nach außen dringen, ehe die
Forscher sich ihrer Sache sicher sind. Man will vermeiden, eine Entscheidung auf
Basis möglicherweise unvollständiger Informationen zu treffen. Inzwischen ist
das Land das Konzept zur schrittweisen Öffnung mitgegangen, das die
Kultusministerkonferenz vorgelegt hat. In den Schulen hat am 4. Mai der Betrieb
für die Ältesten begonnen, diesen Montag auch für die Viertklässler. Bereits
Ende April wurde die Notbetreuung in Kitas und Schulen erweitert. Seitdem reicht
es, wenn der Arbeitgeber beiden Elternteilen bestätigt, dass sie unabkömmlich
sind und nicht von zu Hause aus arbeiten können. Seit vergangener Woche dürfen
Kitas zudem zu einem "eingeschränkten Regelbetrieb" übergehen - viele Kommunen
und Einrichtungsträger setzen das schrittweise um. Es dürfen nur halb so viele
Kinder in einer Gruppe sein wie sonst, und sie sollen sich abwechseln.
Eine regelrechte Kita-Wende hat diese Woche Nordrhein-Westfalen erlebt.
Bislang hatte Familienminister Joachim Stamp (FDP) nur Kinder von Eltern in
"systemrelevanten Tätigkeiten" sowie Kinder von berufstätigen Alleinerziehenden
in die Kitas gelassen, ab 28. Mai sollten Vorschulkinder folgen. Am Mittwoch
jedoch kündigte Stamp überraschend an, was er bisher erst ab September hatte
wagen wollen: Am 8. Juni beginnt in allen Kitas nun doch ein "eingeschränkter
Regelbetrieb" für alle Kinder - egal, ob U3 oder Ü3.
Stamp begründete seinen Kita-Kurswechsel mit den sinkenden Infektionszahlen
im Land. Und er verwies auf wissenschaftliche Erkenntnisse aus Skandinavien, wo
geöffnete Kindertagesstätten keineswegs zu mehr Ansteckungen geführt hätten.
Zudem berief Stamp sich auf Appelle von Ärzten und Psychologen, die vor
häuslicher Gewalt und vor Entwicklungsschäden ohne Kitas gewarnt hatten. Noch
etwas unklar ist, wie genau der Regelbetrieb nun "eingeschränkt" wird. In jedem
Fall wird die Betreuungszeit um zehn Wochenstunden reduziert. Zudem werden die
Kinder in feste Gruppen aufgeteilt, eventuell wird die Zahl der Kinder je Gruppe
gedeckelt. Zum Schutz des Personals hat das Land NRW fünf Millionen FFP2- und
OP-Masken gekauft, die nun an die Jugendämter der Städte verteilt werden. In
NRW, dessen Landesregierung sich sonst zuletzt gern als Lockerer gab, bieten die
Schulen nach wie vor nur karge Kost. Vorrang hat, dass Abiturienten und
Absolventen der zehnten Klassen ihre Prüfungen absolvieren. In Grundschulen und
in Klasse 5 bis 9 der Sekundarstufe I darf an einem Tag oft nur jeweils ein
Jahrgang ins Schulgebäude. Für Schüler der Mittelstufe eines Gymnasiums heißt
das: Bis zum Beginn der Sommerferien Ende Juni dürfen sie ganze drei Mal ihre
Schule betreten.