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Friedrichshafen: Kinder spielen im Kindergarten Wiggenhausen mit Bauklötzen. Die städtische Einrichtung bietet Notbetreuung während der Corona-Pandemie an.

Gefährdet und gefürchtet

Verhaltensauffälligkeiten und häusliche Gewalt: Kinder leiden unter den Corona-Maßnahmen. Dabei wachsen Zweifel, ob die Einschränkungen bei Schul- und Kitabesuch gerechtfertigt sind. Von Christina Berndt und Henrike Roßbach, Berlin, SZ online >> LINK , 23. Mai 2020, 4:45 Uhr Kinder in der Corona-Krise

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Während Einzelhändler, Fußballklubs oder Hoteliers in der Corona-Krise lautstark - und durchaus erfolgreich - für sich getrommelt haben, fiel es Familien bislang deutlich schwerer, ihre Interessen oben auf der Agenda der Krisenmanager zu platzieren. Nun aber haben Kinderärzte einen Teil der Lobbyarbeit für die vulnerable Gruppe der Kleinsten übernommen: In einem gemeinsamen Papier forderten unter anderem der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin am Donnerstag eine rasche Öffnung der Kitas und Schulen "ohne massive Einschränkungen", also ohne Kleinstgruppen und Abstandsgebote, lediglich in festen Gruppen und Klassen. "Kindern ist Social Distancing wesensfremd", sagt der Kinderarzt und Infektionsepidemiologe Johannes Hübner, Vorsitzender der DGPI. "Die medizinische Evidenz rechtfertigt es nicht, ihnen weiterhin ein kindgerechtes Leben zu verwehren." Die Folgen seien zu spüren, ergänzt BVKJ-Präsident Thomas Fischbach: "Wir sehen zunehmend Kinder, die stark unruhige beziehungsweise rastlose Verhaltensweisen zeigen, die zuvor nicht bestanden haben." Die Hilferufe bei Kinderschutz-Hotlines seien sprunghaft gestiegen.

 Die politischen Reaktionen auf den Vorstoß der Kinderärzte blieben zunächst verhalten. Etwas aus der Deckung wagte sich Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD), die schon länger gefordert hatte, den Interessen von Kindern und Eltern in der Krise mehr Beachtung zu schenken. Mit Blick auf das Papier der Kinderärzte sagte sie diese Woche, so schnell wie möglich wieder wie gewohnt in die Kitas und Schulen gehen zu können, wäre in Bezug auf das Kindeswohl das Beste. Doch auch sie wies darauf hin, dass es noch keine gesicherten Erkenntnisse zum Infektionsgeschehen in Kitas gebe. Kritisch äußerte sich der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. Kinder seien weniger ansteckend, steckten aber wegen ihrer vielen Kontakte am Ende doch viele an. "Damit ist rasche Rückkehr zur völligen Normalität nicht möglich." Kinderarzt Hübner hält dagegen. "Es geht uns nicht darum, jetzt alles aufzumachen und zurückzukehren zum Normalzustand", sagt er. "Aber wenn wir uns Gedanken machen, wie wir für die verschiedenen Gruppen Risiken eingehen und durch geschickte Maßnahmen minimieren, dann muss und kann das auch für Kinder gelten."

Und die Lehrer und Lehrerinnen? "Die Stimmung schwankt zwischen großem Verantwortungsgefühl den Schülern gegenüber, Angst vor einer Infektion und Ärger gegenüber denen, die Schulen und Kitas mit den Hygieneplänen einfach alleingelassen haben", sagt Ilka Hoffmann, Vorstandsmitglied der Bildungsgewerkschaft GEW. Die Kolleginnen und Kollegen treibe es "unheimlich um", dass es für Kinder und Jugendliche wichtig sei, einander zu sehen, und dass eine derart lange Zeit des Homeschoolings "sehr problematisch" sei. "Pädagogisch und sozial ist das ein Desaster." Auf der anderen Seite gebe es zum Teil widersprüchliche Informationen zur Rolle der Kinder bei der Verbreitung des Virus. Und zu allem Überfluss sei in vielen Schulen "noch Luft nach oben", was Sauberkeit und Hygiene angehe.

Gewiss ist: Wie jeder Mensch sind auch Kinder ein infektiologisches Risiko. Entscheidend aber ist, wie groß dieses Risiko ist, wenn sie wieder die Kitas, Schulen und Schulhöfe bevölkern. Und: Ist es größer als die Gefahren, denen Kinder durch häusliche Gewalt und eingeschränkte Bildungschancen ausgesetzt sind? Die Antwort der Kinderärzte lautet: Nein. Doch auch wenn ihr Papier plausibel klingt - wissenschaftlich ist ungeklärt, inwieweit Kinder zur Ausbreitung beitragen. Ohne Frage erkranken sie selbst nur selten schwer an Covid-19. Zur Frage, wie stark sie aber zur Verbreitung beitragen, ist in der Fachliteratur für jeden etwas dabei. Während Studien aus Shenzhen und Großbritannien zu dem Schluss kommen, dass Kinder sich ebenso häufig infizieren wie Erwachsene, fanden Forscher in Island, Norwegen und Südkorea nur sehr geringe Raten infizierter Kinder. Unklar ist auch, wie sehr Kinder andere Menschen anstecken. Da sie selbst meist nur milde erkranken, sind sie womöglich weniger infektiös. Darauf deuten Studien aus den Niederlanden und Island hin, wo die Behörden keine einzige Infektion eines Erwachsenen auf ein Kind zurückführten. Womöglich aber wird die Rolle der Kinder auch nur deshalb unterschätzt, weil sie gerade nicht in die Schule gehen.

Das Robert-Koch-Institut fordert, die Schulöffnungen mit epidemiologischen Studien zu begleiten. Ähnlich wie Alten- und Pflegeheime müssten auch Kinder, Lehrer und Erzieher intensiv getestet werden. Der Bund bereitet eine solche Kita-Studie bereits vor.

Anreißer…
SZ 23. Mai 2020; Grafik "spricht" von sog. "Ausgangssperre", die es ja nicht gab.

Zeit für Experimente

Die Länder gehen verschiedene Wege bei der Öffnung von Schulen und Kitas. Sachsen geht voran - was nicht alle begeistert. SZ; Samstag, 23. Mai 2020,

von Claudia Henzler,  Christoph Koopmann und Christian Wernicke

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München - Es ist ein großes Experiment, das in Sachsen in dieser Woche gestartet ist: Seit Montag haben Grundschulen und Kitas wieder geöffnet, und zwar für alle Kinder, jeden Tag, ohne Abstandsregeln. Im Rest der Republik ist man sich dagegen bislang einig, dass man vorsichtiger sein muss. In Niedersachsen etwa bekommen nur Schüler Präsenzunterricht, die in diesem oder im nächsten Sommer einen Abschluss machen oder auf eine weiterführende Schule wechseln. In Bayern kommen Erst-, Fünft- und teilweise Sechstklässler dazu, und auch das nur in kleineren Gruppen und im tage- oder wochenweisen Wechsel mit anderen Schülern. Der Kitabesuch ist hier von Montag an für Vorschulkinder möglich, nur in Ausnahmefällen auch für andere. So oder so ähnlich - Stichwort: Bildungsföderalismus - ist es in den meisten Bundesländern geregelt. Umso interessierter dürften viele Landesregierungen nun nach Sachsen schauen: Wie läuft es beim Vorreiter unter den Schul- und Kita-Öffnern? Um das zu bewerten, sagt eine Sprecherin des Dresdner Kultusministeriums am Freitagmittag, sei es noch "entschieden zu früh". Schließlich gingen die Kinder ja erst dreieinhalb Tage wieder in Schulen und Kitas. Man sei "vorsichtig optimistisch", dass der eingeschlagene Weg der richtige sei: Obwohl der Schulbesuch - nach einer Gerichtsentscheidung - vorerst freiwillig ist, seien 95 Prozent der Grundschüler in die Klassenräume zurückgekehrt, das Feedback sei gut. Dass etwa in einer Dresdner Kita und in einer Oberschule im Landkreis Nordsachsen jüngst je ein Kind positiv getestet wurde, macht den Verantwortlichen keine allzu großen Sorgen. Die Infektionen seien vor der Öffnung passiert. "Wir müssen abwarten, wie es weiter läuft", sagt die Sprecherin des Kultusministeriums. Vom Abwarten scheint Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) jedoch nicht allzu viel zu halten. Dem Focus sagte er: "Wir wollen, dass nach den Sommerferien der Unterricht auch an allen weiterführenden Schulen wieder normal läuft."

Ursula-Marlen Kruse sagt am Telefon, sie sei "geschockt" gewesen, als sie das am Freitagmorgen gelesen habe. Kruse ist Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Sachsen. Schon vom jüngsten Öffnungsschritt für Grundschulen und Kitas war sie, gelinde gesagt, nicht angetan. Und ihre Befürchtungen haben sich bewahrheitet: "Man will passend machen, was nicht passt", sagt Kruse. Die einzige Sicherung im System - feste Gruppen mit festen Betreuern - gehe wegen des chronischen Lehrermangels nicht auf. "Viele Kollegen wechseln als Springer zwischen Klassen", sagt sie. Auch seien Lehrer und Erzieher aus der Risikogruppe im Dienst, weil die Arbeit sonst nicht zu stemmen wäre. Außerdem kämen die Kinder im Bus zur Schule oder im Hort mit anderen zusammen, die nicht in der gleichen Klasse sind. "Es ist ja nachvollziehbar, dass man zur Normalität zurückkehren will", sagt Kruse. "Aber ich habe den Eindruck, hier ist der Wunsch Vater des Gedankens, nicht die Vernunft."

Dabei basiert der sächsische Sonderweg gerade auf der Annahme, dass die Gefahr gar nicht sonderlich groß ist. Man geht davon aus, dass Kinder das Virus kaum verbreiten. Die Staatsregierung beruft sich dabei auf die Einschätzungen des Dresdner Infektiologen Reinhard Berner. Doch die sind umstritten. In Baden-Württemberg etwa ist man vorsichtiger. Die vier Unikliniken des Landes untersuchen im Auftrag der Landesregierung noch, welche Rolle Kinder bei der Verbreitung von Sars-CoV-2 spielen. Zwar haben die Wissenschaftler Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) vergangene Woche vertraulich erste Ergebnisse mitgeteilt. Doch es soll nichts nach außen dringen, ehe die Forscher sich ihrer Sache sicher sind. Man will vermeiden, eine Entscheidung auf Basis möglicherweise unvollständiger Informationen zu treffen. Inzwischen ist das Land das Konzept zur schrittweisen Öffnung mitgegangen, das die Kultusministerkonferenz vorgelegt hat. In den Schulen hat am 4. Mai der Betrieb für die Ältesten begonnen, diesen Montag auch für die Viertklässler. Bereits Ende April wurde die Notbetreuung in Kitas und Schulen erweitert. Seitdem reicht es, wenn der Arbeitgeber beiden Elternteilen bestätigt, dass sie unabkömmlich sind und nicht von zu Hause aus arbeiten können. Seit vergangener Woche dürfen Kitas zudem zu einem "eingeschränkten Regelbetrieb" übergehen - viele Kommunen und Einrichtungsträger setzen das schrittweise um. Es dürfen nur halb so viele Kinder in einer Gruppe sein wie sonst, und sie sollen sich abwechseln.

Eine regelrechte Kita-Wende hat diese Woche Nordrhein-Westfalen erlebt. Bislang hatte Familienminister Joachim Stamp (FDP) nur Kinder von Eltern in "systemrelevanten Tätigkeiten" sowie Kinder von berufstätigen Alleinerziehenden in die Kitas gelassen, ab 28. Mai sollten Vorschulkinder folgen. Am Mittwoch jedoch kündigte Stamp überraschend an, was er bisher erst ab September hatte wagen wollen: Am 8. Juni beginnt in allen Kitas nun doch ein "eingeschränkter Regelbetrieb" für alle Kinder - egal, ob U3 oder Ü3.

Stamp begründete seinen Kita-Kurswechsel mit den sinkenden Infektionszahlen im Land. Und er verwies auf wissenschaftliche Erkenntnisse aus Skandinavien, wo geöffnete Kindertagesstätten keineswegs zu mehr Ansteckungen geführt hätten. Zudem berief Stamp sich auf Appelle von Ärzten und Psychologen, die vor häuslicher Gewalt und vor Entwicklungsschäden ohne Kitas gewarnt hatten. Noch etwas unklar ist, wie genau der Regelbetrieb nun "eingeschränkt" wird. In jedem Fall wird die Betreuungszeit um zehn Wochenstunden reduziert. Zudem werden die Kinder in feste Gruppen aufgeteilt, eventuell wird die Zahl der Kinder je Gruppe gedeckelt. Zum Schutz des Personals hat das Land NRW fünf Millionen FFP2- und OP-Masken gekauft, die nun an die Jugendämter der Städte verteilt werden. In NRW, dessen Landesregierung sich sonst zuletzt gern als Lockerer gab, bieten die Schulen nach wie vor nur karge Kost. Vorrang hat, dass Abiturienten und Absolventen der zehnten Klassen ihre Prüfungen absolvieren. In Grundschulen und in Klasse 5 bis 9 der Sekundarstufe I darf an einem Tag oft nur jeweils ein Jahrgang ins Schulgebäude. Für Schüler der Mittelstufe eines Gymnasiums heißt das: Bis zum Beginn der Sommerferien Ende Juni dürfen sie ganze drei Mal ihre Schule betreten.

Schlagzeilen…
Papierausgabe der Süddeutschen vom 23. Mai 2020, Seite 6
Henrike Rossbach, Papierausgabe SZ vom 23. Mai 2020, Seite 4, MEINUNG