Virologie-Gesellschaft widerspricht dem Ziel der Herdenimmunität

SPIEGEL vom 19. Oktober 2020 Sollten sich in der Coronakrise nur Risikogruppen einschränken müssen? Warum diese Idee schlecht ist, erklärt jetzt die Gesellschaft für Virologie.

Die Corona-Fallzahlen steigen, die Gegenmaßnahmen werden wieder schärfer, um eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus zu verhindern. Gleichzeitig steht jedoch wieder die Idee im Raum, dies sei gar nicht so schlimm, solange man nur die Risikogruppen vor Ansteckung schütze.

Die Gesellschaft für Virologie, in der Fachleute aus Deutschland, Österreich und der Schweiz organisiert sind, widerspricht diesem Ansinnen jetzt energisch. "Mit Sorge nehmen wir zur Kenntnis, dass erneut die Stimmen erstarken, die als Strategie der Pandemiebekämpfung auf die natürliche Durchseuchung großer Bevölkerungsteile mit dem Ziel der Herdenimmunität setzen", heißt es in der Stellungnahme. Unterschrieben haben das Dokument unter anderem Melanie Brinkmann, Christian Drosten und Isabella Eckerle.

Die Idee der natürlichen Herdenimmunität (nicht der durch Impfung) war besonders zu Beginn der Pandemie diskutiert worden, als noch nicht klar war, wie gefährlich die Infektion ist.

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Vor Kurzem hat eine Gruppe von Forschenden Durchseuchung und Herdenimmunität in der sogenannten Great Barrington Declaration wieder aufgegriffen: Demnach sollten praktisch alle Beschränkungen fallen. Allerdings müssten Menschen, für die eine Coronavirus-Infektion sehr gefährlich ist, stärker geschützt werden. Indem Senioren zum Beispiel ihre Einkäufe bestellen und liefern lassen und ihre Verwandten draußen treffen, nicht in Innenräumen.

Risikogruppen: zu zahlreich und zu unterschiedlich, um sie abschirmen zu können

Die Virologie-Gesellschaft weist auf eines der zentralen Probleme hin, die beim Schutz der Risikogruppen bestehen, wenn das Virus sich sonst unkontrolliert verbreiten darf: Diese sind zu zahlreich und zu unterschiedlich, um sie aktiv abschirmen zu können. So gelten neben dem Alter als Risikofaktoren für einen schweren Covid-19-Verlauf unter anderem Übergewicht, Diabetes, Krebs, Nierenschwäche, chronische Erkrankungen von Lunge oder Leber oder eine Schwangerschaft.

Die Gesellschaft schließt sich damit einer internationalen Erklärung an, die im Fachblatt "The Lancet" erschienen ist und ebenfalls die Strategie der "Great Barrington Declaration" zurückwies.

Viola Priesemann hat wie viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die im "Lancet" veröffentlichte Erklärung, auch "John Snow Memorandum" genannt, unterzeichnet. Die Physikerin vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation gehört zu einem Team von Modellierungsexperten, die berechnen, wie sich die Pandemie entwickeln wird.  

"Die Ausbreitung von Covid-19 in der Gemeinschaft zu kontrollieren, ist der beste Weg, um unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften zu schützen, bis sichere und wirksame Impfstoffe und Therapien in den kommenden Monaten zur Verfügung stehen", sagt Priesemann dem SPIEGEL. Risikogruppen abzuschirmen, hat aus Ihrer Sicht keine Chance auf Erfolg. "Dafür ist unsere Gesellschaft zu sehr verbunden", sagt Priesemann. Der einzige Weg sei, die Infektionszahlen möglichst klein zu halten.

"Medizinisch, gesellschaftlich und damit auch ökonomisch hochriskant"

Die Virologie-Gesellschaft urteilt sogar, Herdenimmunität anzustreben, sei "unethisch sowie medizinisch, gesellschaftlich und damit auch ökonomisch hochriskant". Man wisse noch nicht einmal, wie lang die Immunität anhalte. Und eine mögliche Komplikation der Infektion, das Long-Covid-Syndrom, könne die Lebensqualität langfristig einschränken.

"Wir respektieren abweichende Haltungen, die einzelne KollegInnen in den Medien und sozialen Netzen vertreten, da kontroverse Diskurse Wesensmerkmal sowohl der Wissenschaft als auch der Demokratie sind", heißt es weiter. Der Vorstand hielt aber die Stellungnahme für geboten, die laut vieler Gespräche und E-Mails auch die Haltung der Mehrheit der virologisch und ärztlich tätigen Mitglieder abbilde.


ARTIKEL 2 vom 20. August 2020 SPIEGEL

"Was wäre, wenn die Herdenimmunität näher wäre, als Wissenschaftler dachten?", fragt die "New York Times" in einem großen Artikel. Statt der zunächst angenommenen 60 bis 70 Prozent immunen Menschen in der Bevölkerung bräuchte es vielleicht nur 50 Prozent - oder sogar noch weniger. Einige Experten sehen sogar bei 20 Prozent möglicherweise schon die Herdenimmunität erreicht. Dann könnten wir das Coronavirus viel einfacher besiegen als gedacht, so die Annahme.

Ach, das wäre doch schön! Nur noch ein paar durchgemachte Infektionen mehr und schon könnten alle zurück in ihr altes Leben, mit Partys ohne Sorgen, Einkaufen ohne Mund-Nasen-Schutz und Langstreckenflügen, bei denen man nur wegen des Klimas ein schlechtes Gewissen haben muss.

Doch so wird es nicht kommen. Drei Gründe, warum das mit der Herdenimmunität höchstwahrscheinlich nicht funktioniert.

Viren haben andere Pläne

"Fangfrage: Wie viele zirkulierende respiratorische Viren kennen Sie, die Herdenimmunität verursacht haben?", fragte vor Kurzem ein Virologe auf Twitter. Der Forscher löst selbst auf: "Keine, sonst würden sie nicht zirkulieren. Viren passen sich an, um der Immunantwort auszuweichen oder sie zu verändern, um zu überdauern."

Tatsächlich kursieren ja andere Coronaviren - ebenso wie unzählige andere Viren - seit langer Zeit, ohne dass sie sich jemals durch Herdenimmunität von selbst verabschiedet hätten.

Selbst die Masern, die eine lebenslange Immunität auslösen, konnten letztendlich nur mithilfe einer Impfung dauerhaft zurückgedrängt werden. Bevor es die Impfung gab, fanden die Viren einfach unter kleinen Kindern immer wieder neue, nicht immune Wirte.

Unfassbares Leid

Ungleich wichtiger als theoretische Überlegungen zur Evolution von Viren ist die inzwischen klare Erkenntnis, dass Coronavirus-Infektionen gefährlich sein können. Klar: Viele Betroffene stecken die Infektion ohne oder mit nur milden Beschwerden weg. Aber ein relevanter Anteil wird krank, trägt bleibende Schäden davon oder stirbt.

Selbst Orte mit großen Ausbrüchen sind noch weit von einer Herdenimmunität entfernt: In New York etwa haben rund 21 Prozent der Menschen Antikörper. Ob diese auch tatsächlich vor einer zweiten Infektion schützen, ist indes noch unklar.

Eine Region in Europa allerdings ist laut Antikörperstudien möglicherweise nah dran an der Herdenimmunität: In der italienischen Provinz Bergamo mit der gleichnamigen Hauptstadt haben 57 Prozent der Bevölkerung Antikörper gegen Sars-CoV-2. Beim nationalen statistischen Institut Italiens ist nachzulesen, wie viele Menschen in Bergamo in den vergangenen Monaten starben - und wie viele es in den Vorjahren im Schnitt in den jeweiligen Monaten waren: In einem März der Jahre 2015 bis 2019 starben in der Provinz durchschnittlich 897 Menschen, im März 2020 waren es 6059. Auch im April 2020 gab es mehr als doppelt so viele Todesfälle wie in den Jahren zuvor in diesem Monat: 1801 gegenüber 796. In Bergamo leben etwa 1,1 Millionen Menschen.

Wer sich die Situation vor Ort anders verdeutlichen will: Hier ist zu lesen, was der Bürgermeister von Bergamo am 18. März aus den Kliniken der Stadt erzählte, hier finden Sie das Tagebuch eines Mannes aus der italienischen Stadt.

Dazu kommt: Auch Menschen, die Covid-19 laut so einer Statistik überstehen, können dauerhafte Schäden davontragen. Es mehren sich Berichte über Betroffene, die seit Monaten schwer krank sind, auch wenn sich die Häufigkeit dieser Probleme noch nicht beziffern lässt.

Die Virologin Sandra Ciesek, Professorin an der Uniklinik Frankfurt, beantwortete die Frage, ob eine Herdenimmunität erreichbar sei, dem SPIEGEL gegenüber deshalb auch so: "Als Allererstes ist dieser Weg ja überhaupt nicht erstrebenswert, weil das Virus viele Schäden anrichtet und sehr viele Menschen sterben würden."

Dass Deutschland zu diesem Zeitpunkt vergleichsweise wenige Todesfälle im Zusammenhang mit dem Coronavirus zu beklagen hat, liegt eben daran, dass hier nicht ernsthaft mit der Idee geliebäugelt wurde, eine Herdenimmunität zu erreichen.

Ohne langfristige Immunität keine Herdenimmunität

Eine der großen Fragen zum Coronavirus lässt sich bislang einfach nicht eindeutig beantworten, nämlich wie lange die Immunität gegen den Erreger nach einer durchgemachten Infektion anhält. Aktuell gibt es immerhin ermutigende Hinweise darauf, dass die Immunität lange oder dauerhaft bestehen könnte, aber ganz sicher lässt sich dies nicht sagen. Anders formuliert: Auch in Bergamo kann man nicht sicher sein, dass eine weitere Coronavirus-Welle irgendwann doch wieder viele Menschen treffen könnte. Die Hoffnung ist natürlich, dass die Immunität Bestand hat, doch falls dies nicht der Fall sein sollte, lässt sich eine Herdenimmunität ohnehin nicht oder nur für kurze Zeit erreichen.

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