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Süddeutsche ON vom 4. November 2021, 7:48 Uhr, Von Felix Hütten
Der menschliche Körper ist keine Maschine,
selten reagiert er linear. Ein bisschen von dem Medikament hier, und
exakt das Gewünschte passiert - in der Theorie mag das so sein, in der
Praxis oft nicht. Eine Maschine kennt klare Größen, an/aus. Der Mensch
aber kann auch halb-aus, sehr gut sogar. Jüngstes Beispiel sind die
Corona-Impfungen. Zwei Mal in den Arm gepikst, und schon macht einem
Sars-CoV-2 keine Probleme mehr? Wäre es doch so einfach.
Deshalb wiederholen Virologen und Immunologen seit Wochen zwei Sätze: Ja, die Impfung
funktioniert hervorragend, aber nein, natürlich gibt es keinen
umfassenden, hundertprozentigen Schutz. Das mag logisch klingen, doch
ausgerechnet zur besten Sendezeit am Sonntagabend in der ARD wiederholte
die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht das derzeit oft geäußerte,
vermeintliche Gegenargument: Wenn die Impfung nicht vor einer Infektion
schütze, ja mehr noch, wenn auch Geimpfte das Virus weitergeben können,
zerbröselt ja wohl ein zentrales Argument für den Piks. Wagenknecht
jedenfalls lässt sich erst mal nicht impfen.
Der Bonner Virologe Hendrik Streeck äußerte sich vor wenigen Tagen in einem Gastbeitrag der Zeitung Die Welt
ähnlich: Es sei falsch, Ungeimpfte für die Toten verantwortlich zu
machen, so Streeck. "Der Anspruch der Impfung war es nie, eine Infektion
zu unterbinden, sie sollte vor einem schweren Verlauf schützen. Die
Impfung ist Eigenschutz, kein Fremdschutz."
Tatsächlich zeigen aktuelle Daten, zuletzt eine Studie aus Großbritannien, erschienen im Fachblatt Lancet Infectious Diseases, dass
auch geimpfte Personen sich mit der Delta-Variante von Sars-CoV-2
infizieren und das Virus weitergeben können. In der Studie wurden
Menschen, die gemeinsam in einem Haushalt leben, mittels PCR-Proben
untersucht. Es zeigte sich, dass eine infizierte Person in immerhin 25
Prozent der Fälle weitere geimpfte Haushaltsmitglieder anstecken konnte.
Unter ungeimpften Bewohnern kam es bei 38 Prozent zu einer Infektion.
Die Studie zeigte auch, dass zwar auch Geimpfte eine nennenswerte
Viruslast aufwiesen, diese aber im Vergleich zu Ungeimpften deutlich
schneller sank. "Die Impfung verringert das Risiko einer Infektion mit
der Delta-Variante und beschleunigt die virale Clearance", schreiben die
Autoren in ihrem Fazit. Dennoch aber können, so die Autoren,
vollständig geimpfte Personen mit Durchbruchsinfektionen eine ähnliche
Spitzenviruslast wie ungeimpfte Fälle aufweisen und damit die Infektion
im häuslichen Umfeld wirksam übertragen - auch auf vollständig
geimpfte Kontaktpersonen.
Das Immunsystem von Geimpften reagiert schneller - dem Virus bleibt weniger Zeit zur Verbreitung
Diese
Daten lassen sich erklären, wenn man sich den Infektionsweg des Virus
anschaut. Es kommt über die Nasen- und Mundschleimhaut in den Körper
hinein und befällt zunächst dort die Zellen und vermehrt sich. Je
nachdem, wie gut die Immunantwort eines Menschen ausfällt, kann es
einige Tage dauern, bis die Abwehrmechanismen des Körpers für das Virus
zur Gefahr werden. Bis dahin kann sich der Erreger vervielfältigen und
andere Menschen anstecken. Hier kommt die Impfung ins Spiel, denn ein
vorgewarntes Immunsystem ist in der Regel deutlich schneller und
schlagkräftiger, die Zeitspanne, in der das Virus sein Unwesen treiben
kann, wird kürzer. Derzeit geht man davon aus, dass Geimpfte, die sich
infiziert haben, etwa drei Tage lang das Virus weitergeben können. Bei
Ungeimpften sind es schätzungsweise sieben.
Das mag zunächst nach einer Spitzfindigkeit klingen, macht aber
epidemiologisch einen enormen Unterschied. In sieben Tagen hat das Virus
deutlich bessere Chancen, weitere Menschen anzustecken, als in drei.
Das Virus braucht in der Regel mehrere Anläufe oder einen länger
anhaltenden Kontakt, um zum nächsten Wirt weiterzuziehen. Ein
gemeinsamer Haushalt ist hierfür der perfekte Ort, da hier auch in
kurzer Zeit enge und intensive Kontakte zu Mitmenschen stattfinden. Es
ist daher wenig überraschend, dass ausgerechnet in einem gemeinsamen
Haushalt viele Infektionen passieren.
Um die Schlagkraft der Impfungen besser
nachvollziehen zu können, lohnt es sich daher, nicht nur Haushalte,
sondern eine ganze Gesellschaft in den Blick zu nehmen. In einer
aktuellen Untersuchung ist ein Autorenteam um den Epidemiologen Paul
Elliott vom Imperial College London der Frage nachgegangen, welchen
Effekt die Impfungen bevölkerungsweit in England zur Zeit der dortigen
dritten Welle hatten. Die im Fachblatt Science publizierte Studie
wertete dazu Daten des REACT-Programms aus, das versucht, mehrere
Tausend Menschen jede Woche auf das Virus zu testen, um so einen
Überblick über das Infektionsgeschehen zu bekommen. Die ausgewerteten
Daten zeigen, dass "die dritte Infektionswelle in England vor allem
durch die Delta-Variante bei jüngeren, nicht geimpften Menschen
ausgelöst wurde", schreiben die Autoren. Die rasche Einführung des
Impfprogramms in England habe bis zum heutigen Tag die Zahl der
Infektionen und schweren Fälle im Vergleich zur nicht geimpften
Bevölkerung begrenzt.
Das Robert-Koch-Institut hat vor einem Tag seine Empfehlungen
genau zu diesem Punkt angepasst, man könnte es als Antwort auf die
Äußerungen von Wagenknecht und Streeck verstehen. "In der Summe", ist
dort zu lesen, "ist das Risiko, dass Menschen trotz Impfung PCR-positiv
werden und das Virus übertragen, (...) deutlich vermindert."