Historie der Impfkritik

Das große Unbehagen    

Seit 1796 gibt es Impfstoffe, fast genauso alt ist die Kritik an ihnen. Doch Regierungen stehen Impfgegnern nicht hilflos gegenüber. Was sich aus der Geschichte lernen lässt. Von Niccolò Schmitter, Süddeutsche vom 31. Januar 2022

Vor 150 Jahren war Stockholm eine Insel - wenn auch nicht im geografischen Sinne. Nicht Wassermassen trennten die Hauptstadt vom Rest Schwedens, sondern die Impfquote. Während 1872 im restlichen Schweden nahezu 80 Prozent der Bevölkerung gegen die Pocken geimpft waren, kam man in der Hauptstadt nicht mal auf die Hälfte, trotz einer Impfpflicht für Kinder. Die Quittung erhielten die Bewohner keine zwei Jahre später. Die in Europa wütende Pockenepidemie erreichte auch sie - mit verheerenden Folgen. 1874 waren fast ein Fünftel aller Todesfälle in Stockholm auf die Pocken zurückzuführen, für den Rest des Landes war die Seuche hingegen kaum ein Thema.

Warum ausgerechnet Stockholm zu einer Insel des Impfunwillens wurde, hatte mehrere Gründe. Einer jedoch war entscheidend: In der Stadt hatte sich eine starke Impfgegnerbewegung etabliert. Von den 1850er-Jahren an hatten Ärzte irritiert festgestellt, dass sich Familien vermehrt gegen das Pockenvakzin wehrten. Als Gründe wurden teils absurde Gerüchte genannt: Die Impfungen seien die eigentlichen Krankheitsauslöser, nach Impfungen müsse den Kindern manchmal der Arm amputiert werden.      

"Schon im 19. Jahrhundert umfasste der Begriff des Impfgegners ein breites Spektrum an gesellschaftlichen Gruppen", erklärt Malte Thießen. Der Historiker ist Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte und forscht seit mehr als zehn Jahren zum Impfen - und der Opposition dagegen: "Von strammen Verschwörungstheoretikern bis hin zu Menschen, die Impfen zwar nicht ablehnen, sondern nur Angst vor den Nebenwirkungen haben, war damals alles dabei." Die Impfkritik müsse man dabei vor dem Hintergrund des radikalen Wandels der Lebens- und Arbeitswelten im 19. Jahrhundert verstehen.

Die historischen Erfahrungen zeigen aber nicht nur, dass Impfungen schon immer in Teilen der Bevölkerung auf Skepsis stießen - sondern auch, was sich dagegen unternehmen lässt. Denn nicht immer ist eine Impfpflicht die einzige Lösung; in manchen Fällen haben solche Regelungen den Protest erst recht eskalieren lassen.      

"Das Impfen war ein passendes Symbol für die Auswüchse der Moderne."

      Im 19. Jahrhundert begründeten Industrialisierung, Urbanisierung und wissenschaftlicher Fortschritt eine Ära umfassender Umbrüche, die unaufhaltsame Moderne wirkte auf große Teile der Bevölkerung Europas eher beängstigend als zukunftsweisend. Diese Gefühlswelt entlud sich teils in flammendem Widerstand gegen Vakzine, denn "das Impfen war ein passendes Symbol für die Auswüchse der Moderne", wie Thießen sagt. Gleichzeitig wandelte sich der staatliche Umgang mit Seuchen grundsätzlich. Statt um Eindämmung ging es jetzt um Vorsorge. Die Immunisierung wurde zu einem gesamtgesellschaftlichen Projekt, in welches das Individuum notfalls auch gegen seinen Willen einbezogen wurde. Daran beteiligten sich Wissenschaftler, Unternehmen und eine professioneller agierende Ärzteschaft, die Pharmaindustrie entstand. All dies erzeugte Widerstand, vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Neu war der aber bereits damals nicht.      

Schon als der englische Landarzt Edward Jenner 1796 den ersten empirischen Beweis für die Wirksamkeit des von ihm entwickelten Pockenvakzins erbrachte, hatte die Kritik an der neuen Methode nicht lange auf sich warten lassen. Dabei spielten anfangs noch religiöse Motive eine Rolle, die Vorstellung, dass eine Krankheit als göttliche Prüfung durchzustehen sei, war weit verbreitet. Die Erzählung vom Impfen als unzulässiger Eingriff in Gottes Werk hielt sich in einigen christlichen Strömungen hartnäckig - teilweise bis heute.

      Damals aber stellten sich sowohl die katholische als auch die evangelischen Kirchen bald hinter die Immunisierungsprogramme der europäischen Staaten und verhalfen der Maßnahme unter den analphabetischen Bevölkerungsschichten zum Durchbruch, beispielsweise mit Predigten im Gottesdienst.      

Mit der Impfpflicht eskalierte die Wut auf den Staat

      Doch die Impfgegnerschaft hielt sich. Zunächst war es noch ein eher diffuses Phänomen - bis sich die Situation in der Mitte des 19. Jahrhunderts schlagartig änderte. Aufgrund einer besorgniserregend geringen Impfquote sah sich die britische Regierung 1853 gezwungen, die Pocken-Impfpflicht für Säuglinge einzuführen. In Bayern existierte das Obligatorium schon seit 1807, Baden und Württemberg waren 1809 und 1818 gefolgt. Im liberalen England wurde der "Vaccination Act" jedoch von weiten Teilen der Bevölkerung als unerhörter Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte angesehen. So kam es nach dessen Einführung in mehreren englischen Städten zu gewalttätigen Protesten. Vereine, die gegen die Impfpflicht, aber zum Teil auch gegen die Impfung an sich polemisierten, betrieben massive Desinformationskampagnen, England wurde überschwemmt von Pamphleten, Büchern und pseudowissenschaftlichen Publikationen.      

Der Anstoß zur Impfkritik ging dabei vom Bürgertum aus. "Liberale wetterten in England gegen die Impfpflicht als Fehlentwicklung des modernen Staates", sagt Thießen. Nicht die Immunisierung als solche wurde da verdammt, sondern die verpflichtende Maßnahme als Ausdruck einer überbordenden "Staatsallmächtigkeit". Das individuelle Risiko eines Impfschadens werde dem Bürger aufgezwungen, seine Grundrechte auf Selbstbestimmung, Unverletzlichkeit der Familie und des Körpers vom Staat ausgehöhlt - so die Argumentation. Und sie verfing, auch in Stockholm. Begleitet von Reformen entstand in der schwedischen Hauptstadt in der Jahrhundertmitte ein liberales Bürgertum, das sich geschickt der Impfpflicht entzog.

      Auch im Deutschen Kaiserreich setzte die 1874 infolge der Pockenepidemie eingeführte Impfpflicht ungeheure Kräfte frei. Die deutsche Impfgegnerbewegung ließ sich dabei von ihren britischen Vorgängern inspirieren. Unzählige Vereine mit eigenen Presseorganen formierten sich und übten als Lobbygruppen Druck auf die Politik aus.      


Soziale Ungleichheit führte dazu, dass Impfkritik in der Arbeiterschaft leicht verfing      

Dazu entwickelte sich die Impfgegnerschaft zu einem klassenübergreifenden Phänomen - auch mithilfe der SPD. Denn die deutsche Sozialdemokratie formulierte eine eigene Form der Impfkritik, wobei sie nicht die Vakzine als solche verurteilte. Impfungen seien ja schön und gut, aber zuvorderst müsse der Staat die Arbeits- und Lebensbedingungen des Proletariats verbessern. Die für die Arbeiter organisierten Massenimpfungen waren ohnehin äußerst unbeliebt. Sie waren chaotisch organisiert, fanden ohne adäquate Aufklärung und unter unhygienischen Bedingungen statt. Die Impfaufforderungen wurden in den Briefkasten geworfen, wer zum angegebenen Termin nicht konnte, hatte Pech gehabt. Niedrigschwellige Angebote fehlten. Dadurch verfing die Impfkritik unter der Arbeiterschaft leicht.

      Aus diesen Erfahrungen lässt sich aber auch schließen, was sich tun lässt, um Impfquoten zu erhöhen. Bis heute spielen etwa Armut und mangelnder Zugang zu Hilfsangeboten oftmals noch eine Rolle. Das gilt nicht nur für ärmere Staaten, in denen die Versorgung etwa mit Corona-Impfstoffen nach wie vor schlecht ist, sondern auch für benachteiligte Gruppen in reichen Ländern. Zentral ist es daher auch, die Impfung so leicht zugänglich wie möglich zu machen und die Menschen daran zu erinnern, dass sie wichtig ist. In den USA werben etwa "Community Advocates" in ihren Vierteln für die Impfung.      

Außerdem gilt: Der Staat muss Vertrauen in das Gesundheitssystem aufbauen, statt es selbst zu untergraben. Bis heute wirkt etwa die üble Tuskegee-Syphilis-Studie nach, wie die Wissenschaftshistorikerin Caitjan Gainty vom Londoner King's College Ende 2020 in einem Text auf dem Portal The Conversation schilderte. Forscher der US-Gesundheitsbehörde PHS hatten von 1932 an den Verlauf der Geschlechtskrankheit unter Afroamerikanern untersucht, wobei Betroffene nicht in die Diagnose eingeweiht wurden. Die Untersuchung lief 40 Jahre lang und wurde selbst dann nicht abgebrochen, als wirksame Medikamente gegen die Syphilis verfügbar waren - das alles, um den "natürlichen" Verlauf der Krankheit nicht zu verändern. Auch solche menschenverachtenden Experimente und historische Benachteiligung tragen laut Gainty zu geringen Impfquoten und Impfablehnung unter Minderheiten bei. In Pakistan wiederum nutzte die CIA ein erfundenes Impfprogramm gegen Hepatitis B als Tarnung in ihrem Versuch, Osama bin Laden aufzuspüren - und untergrub damit das Vertrauen in die echten Impfkampagnen.

      Und schließlich zeigen Diskussionen um den Kombinationsimpfstoff gegen Diphtherie, Keuchhusten und Tetanus (DPT), welchen Einfluss konsequentes Handeln von Regierungen auf den Erfolg von Impfkampagnen hat. 1974 behaupteten drei Wissenschaftler in einer Studie, der Impfstoff habe bei 36 Kindern Schäden im Gehirn verursacht. Die Schlussfolgerungen stellten sich als falsch heraus, doch die Nachricht löste weltweit immense Zweifel und Ängste aus. In Schweden stürzte die Impfquote gegen die Krankheiten innerhalb von fünf Jahren von 90 Prozent auf zwölf Prozent ab, in Japan stellte die Regierung die Impfung gegen Keuchhusten ganz ein. Auch in Irland und Australien brach erst das Vertrauen, dann die Impfquote ein. In all diesen Ländern waren Keuchhusten-Epidemien die Folge.      

Es gab aber auch Staaten, in denen die Impfquote hoch blieb, etwa in den USA oder der früheren DDR. Eine Gemeinsamkeit: Wo sich Gesundheitsexperten gegen die Anti-Impf-Rhetorik stemmten, wo Behörden die Krankheiten weiterhin überwachten, die Impfkampagnen fortsetzten und die Öffentlichkeit beruhigten, kam auch der Keuchhusten nicht zurück.

      Wie wirksam Impfungen sind, ließ sich indes bereits vor rund 150 Jahren sehen, etwa in Stockholm. Hinter hohen Mauern verschanzt und eingepfercht befand sich in der Stadt eine fast 4000 Mann starke Garnison des Militärs - perfekte Bedingungen für das Pockenvirus. Doch im schwedischen Heer wollte man von Impfkritik nichts wissen, alle Soldaten wurden konsequent immunisiert. Die traumatische Epidemie in Stockholm, sie war für das Militär kaum ein Thema.