Psychologen erkennen immer klarer, wie wandelbar Persönlichkeit ist, und suchen nach Wegen, diese gezielt zu verändern. Ist das nun Fluch oder Segen für alle, die gegen ihre Macken ankämpfen? Süddeutsche vom 25. Januar 2020 von Sebastian Herrmann
Der Hader lauert immer irgendwo im Gestrüpp der eigenen Unzulänglichkeiten, stets bereit, seine Zähne in die wunde Seele zu schlagen. Es reichen Kleinigkeiten, um ihn hervorzulocken und an sich selbst zu leiden. Vielleicht hat sich in der Arbeit mal wieder die Zeit irgendwo im Internet aufgelöst. Nachrichtenseiten, Texte, Fotos, Filme, Tweets haben so laut "klick mich, klick mich!" geplärrt, dass es nicht anders ging, als sich abzulenken und rumzutrödeln. Zack, war der Tag vorbei und nichts erledigt. Mist.
Ach, wäre ich doch nur gewissenhafter, hätte mehr Selbstkontrolle und würde die Dinge gleich erledigen, dann wäre alles leichter. Oder neulich auf der Firmenfeier: Wieder nur rumgestanden wie eine vergessene Büropflanze und mit Unbehagen auf eine Gelegenheit zur Flucht gewartet. Wäre ich doch nur etwas extrovertierter, dann könnte sogar eine Feier mit den Kollegen Spaß machen.
Zwischen dem erwünschten und dem erlebten Selbst klafft meist eine große Lücke. Offenbar gilt das für die überaus meisten Menschen. Und da ist es kein Wunder, dass der Wunsch nach Veränderung der eigenen Persönlichkeit sehr weit verbreitet ist, wie Psychologen um Nathan Hudson gerade in einer aktuellen Studie im Fachjournal Social Psychology and Personality Science schreiben.
Die meisten Menschen möchten gerne introvertierter sein
Natürlich steckt dahinter das Bedürfnis nach Anerkennung: Die Änderungswünsche, so berichten die Forscher, richten sich auf sozial erwünschte Dimensionen von Persönlichkeit. Die meisten Menschen möchten gerne extrovertierter, verträglicher, offener, ausgeglichener und gewissenhafter werden. Je nach Studie äußern bis zu 90 Prozent der Befragten entsprechende Wünsche.
Es ist gut möglich, dass diese Veränderungsträume ein kleines bisschen in Erfüllung gehen könnten: Ein gewisser Anteil der Persönlichkeit lässt sich wohl entsprechend eigener Vorstellungen formen und ändern, wie nicht nur die Wissenschaftler um Hudson berichten.
Das klingt tröstlich, wirft jedoch mindestens drei Fragen auf: Wie genau lassen sich charakterliche Macken abschleifen? Ist das in Zeiten permanenten individuellen Optimierungsdrucks nicht das endgültige Ticket in den Wahnsinn? Und wenn Psychologen eine Veränderung der Persönlichkeit messen, ist das für einen Menschen überhaupt relevant oder nur ein abstrakter Wert in einer Studie?
Persönlichkeit setzt sich aus den weitgehend stabilen Gedanken-, Gefühls- und vor allem Verhaltensmustern eines Individuums zusammen, die es von anderen Menschen abhebt. Das Konzept ist zu großen Teilen etwas Relatives: Es beschreibt, wie ein Mensch sich von anderen unterscheidet.
Lange hatten sich die Psychologen in Extrempositionen verschanzt
Das am weitesten verbreitete Modell setzt auf fünf Faktoren, um Persönlichkeit darzustellen, die sogenannten "Big Five": Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. Mit einem Mix aus diesen Dimensionen lässt sich der Charakter eines Menschen recht treffend beschreiben, das Big-Five-Modell ist Ergebnis jahrzehntelanger Forschung.
"Die Persönlichkeitspsychologie hat sehr viel Evidenz dafür zusammengetragen, dass sich Persönlichkeitsmerkmale ein Leben lang verändern", sagt Wiebke Bleidorn von der University of California in Davis. Diese klare Aussage ist ein deutlicher Fortschritt: Lange hatten sich die Akteure dieser Unterdisziplin der Psychologie in gegensätzlichen Extrempositionen verschanzt. Eine Seite argumentierte, Persönlichkeit sei starr und fixiert; die andere setzte dem entgegen, dass Charakter rein situationsbedingt und fast beliebig sei.
Eine Mischung aus beiden Positionen trifft zu. Das Erbgut setzt einen Rahmen oder zieht einen Zaun um einen Charaktergarten, innerhalb dessen sich Spielraum befindet, um Beete anzulegen und verschiedene Blumen zu pflanzen. Sich vollkommen neu zu erfinden, ist demnach allenfalls Wunschtraum und Lockmittel aus dem Reich der Selbsthilfegurus.
Eine perfektionistische Buchhalterseele mit einem Hang zu antisozialen Wutanfällen wird sich höchstwahrscheinlich niemals in einen überaus angenehmen und kreativen Chaos-Künstler verwandeln. Aber auch dieser zornige Perfektionist kann vielleicht einige seiner Dämonen zähmen und wird sich zugleich weitgehend treu bleiben. Was genau Umwelt und Erbgut dazu beitragen, kann die Forschung für ein spezifisches Individuum nicht sagen.
Wichtig ist der Übergang von der Schule in die Universität
Der Einfluss der Gene auf den Charakter wirkt in den ersten Jahren einer Biografie am deutlichsten. "Im jungen Erwachsenenalter verändert sich Persönlichkeit dann besonders stark", sagt die Persönlichkeitspsychologin Bleidorn. Die Lebensphase zwischen etwa 18 und 40 Jahren konfrontiert das Individuum mit unzähligen Herausforderungen, Rollenerwartungen und neuen Erfahrungen.
Der Übergang von der Schule in die Universität oder den Beruf, die ersten Beziehungen, die Geburt eigener Kinder und viele andere biografische Großereignisse hinterlassen Spuren in der Seele und grätschen damit der DNA ein bisschen in die Doppelhelix - wenn man so will.
Die charakterliche Entwicklung der meisten Menschen gleicht sich in dieser Phase. "Das nimmt in der Regel eine positive Richtung", sagt Bleidorn. Die meisten jungen Erwachsenen werden weniger neurotisch, also emotional stabiler. Sie werden gewissenhafter und ein klein wenig verträglicher.
Die emotionale Stabilität lässt nach
Sie entwickeln sich zu dem, was man "produktive Mitglieder einer Gesellschaft" nennt - nicht alle, aber die meisten, und sie alle starten von verschiedenen Ausgangspunkten. Neue Rollen erfordern neues Verhalten. Das kann Gewohnheiten wecken, die dann so in Fleisch und Blut übergehen, dass sie Teil des Charakters werden.
"Die spannende Frage ist, welche Lebensereignisse sich wie auf die Persönlichkeit auswirken", sagt Bleidorn. Dazu existieren mittlerweile viele Studien, und doch ergibt sich daraus kein eindeutiges Bild. Die bisherigen Ergebnisse legen nahe, dass vor allem die erste romantische Beziehung sowie das Ende der Ausbildungszeit den deutlichsten Einfluss auf den Charakter haben.
Mit diesen biografischen Übergängen geht eine Steigerung von Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Offenheit für Erfahrungen sowie - etwas geringer - emotionaler Stabilität einher. Die Auswirkung einer Trennung sind hingegen unklar. Auch die Befunde darüber, wie sich die Geburt von Kindern auf den Charakter der Eltern auswirkt, sind ambivalent. Am ehesten lässt sich derzeit wohl sagen: Die Effekte sind erstaunlich klein für ein derart großes und einschneidendes Erlebnis.
Für den Verlauf einer Biografie haben Persönlichkeitsmerkmale hohe Vorhersagekraft: Bildungserfolg, Karriere, Einkommen, Zufriedenheit im Job, Verlauf von Beziehungen, Entwicklung der Gesundheit und andere nicht ganz unwesentliche Zutaten eines gelungenen Lebens hängen damit zusammen. "Persönlichkeit beeinflusst so gut wie alle Bereiche, und zwar deutlich", sagt Bleidorn.
Man bräuchte mehr Wissen über Psychotechniken
Sollte man Charakterzüge also nicht als Ziel von Interventionen ins Visier nehmen, um Menschen zu helfen, fragt die Psychologin zusammen mit Kollegen in einer Arbeit im Fachblatt American Psychologist. Das ist auf der einen Seite ambitioniert, weil sehr, sehr mühsam und zäh, auf der anderen Seite aber auch vielversprechend, eben weil Persönlichkeit sowohl sehr stabil als auch wandelbar ist: Derartige Veränderungen wären dann nachhaltig im Menschen verankert. Aber wie lässt sich das anstellen?
Das ist nun der Punkt, an dem ein am Seitenrand stehender Beobachter in amüsiertes Staunen abgleiten könnte: Offenbar hat sich in der Persönlichkeitspsychologie lange Zeit niemand systematisch Gedanken gemacht, wie so etwas funktionieren könnte. Hat der grundsätzliche Streit über die Wandelbarkeit von Persönlichkeit alle Aufmerksamkeit und Energie abgezogen?
"In der Persönlichkeitspsychologie herrscht ein eindeutiger Mangel an Forschung dazu, mithilfe welcher Techniken Persönlichkeitsmerkmale verändert werden können", schrieben Psychologen um Brent Roberts 2017 in einer Meta-Analyse im Fachjournal Psychological Bulletin. Welche Interventionen auf Persönlichkeit wirken könnten, stammen hingegen aus der klinischen Psychologie. In Forschungen zu verschiedenen Formen der Psychotherapie haben Wissenschaftler - zum Glück, muss man wohl sagen - oft auch Persönlichkeitsentwicklungen mit abgefragt und gemessen. In der Mehrzahl der Studien ging es um Depressionen, Angst- oder Essstörungen.
Effekte zeigen sich am Anfang einer Therapie
Die Behandlung solcher Psychopathologien hatte auch messbare Auswirkung auf die Persönlichkeit, natürlich aber auf Dimensionen, die in Zusammenhang damit standen: Die emotionale Stabilität verbesserte sich, ebenso Extraversion. In den meisten Fällen, so berichten die Psychologen um Roberts, zeigten sich die deutlichsten Effekte innerhalb des ersten Monats der Therapie.
Bei allen Interventionen sei es eine relevante Frage, wie lange Änderungen anhielten, sagt die Persönlichkeitspsychologin Julia Rohrer von der Universität Leipzig. "Vielleicht ändert sich für einige Wochen etwas, aber dann ebbt der Effekt eventuell wieder ab."
Das gilt auch für die wenigen Befunde aus nichtklinischen Settings: Achtsamkeitssitzungen, das Training neuer Fertigkeiten oder Kreuzworträtsel und Sudoku-Übungen für Senioren haben in Untersuchungen persönlichkeitsändernde Effekte gezeigt. Sicher ist: Die Effekte sind klein; ungewiss ist, wie stabil sie sind.
Harte Regeln und klare Erwartungen sind hilfreich
Eine Faustregel für all die hadernden Veränderungswilligen bietet die Wissenschaft dennoch an. Die beiden Forscher Terrie Moffitt und Avshalom Caspi haben diese als Paradoxon formuliert: Demnach kann sich Persönlichkeit dort am besten entfalten, wo Verhaltensregeln besonders eng und Rollenerwartungen hoch sind.
Das klingt zunächst schräg. Braucht ein Charakter nicht Freiheit, um Ballast abwerfen zu können? "Wenn unklar ist, wie man sich in einer Situationen zu verhalten hat", sagt die Persönlichkeitspsychologin Jule Specht von der Humboldt-Universität Berlin, "fällt man besonders leicht in seine bewährten Muster."
Wer es mit seinen Macken aufnehmen will, muss sich ihnen stellen und die Komfortzone verlassen - und das am besten in einem Umfeld, in dem die Spielregeln glasklar formuliert sind. Wie nachhaltig das dann auf den Charakter wirkt, weiß die Forschung nicht. Aber gewiss ist, dass sich so neue Fertigkeiten lernen oder Ängste besiegen lassen: Konfrontation mit klarem Rahmen.
Die ideale Persönlichkeit gibt es nicht
Muss das sein, muss jeder neben Fitnessstudio und Power-Diät auch noch zum Architekt seiner Persönlichkeit werden? "Es ist sehr gut, dass sich die Menschen in ihren Eigenheiten unterscheiden", sagt Specht, "so etwas wie eine ideale Persönlichkeit gibt es ohnehin nicht, auch nicht in der Arbeitswelt."
Was ein Beruf charakterlich erfordert, ist in einem anderen vielleicht hinderlich - je nach Persönlichkeit fallen dem einen kreative Tätigkeiten leicht, dem anderen Verwaltungsarbeit. "Gäbe es eine optimale Persönlichkeit, hätte sich das vermutlich schon irgendwie evolutionär durchgesetzt", sagt auch Rohrer.
Jedes Umfeld lässt verschiedene Persönlichkeiten blühen. Die hochkomplexen, arbeitsteiligen Gesellschaften der Gegenwart bieten so viele Nischen, dass sich - tröstlicher Gedanke - vermutlich für fast jeden Charakter ein gedeihlicher Rahmen finden lassen sollte. Wenn nun alle daran arbeiten, sich in gewissenhafte Highperformer zu verwandeln, ist niemandem geholfen.
Wer aber unbedingt an sich arbeiten möchte, könnte sein Zielfernrohr neu justieren: Statt sich an unerreichbaren Vorbildern zu orientieren, könnte er seine Vorstellung von einem idealen Selbst modifizieren. Aber womöglich wäre das nur eine andere Form der Persönlichkeitsarbeit: Auch die Neigung zu Selbstkritik zählt zu den Zutaten eines Charakters. Glücklich ist eher, wer davon wenig in sich trägt.